Prof. Dr. Felix von Cube

Selbstmanagement und Lebenskunst

Das Streben nach Lustgewinn

Die befreite Lust

Am selben Tag, am 09.02.02, erschien die Wochenzeitschrift "Focus" mit dem Titelthema "Sexuelle Intelligenz" und die Wochenzeitschrift "Der Spiegel" mit dem Titelthema "Die Chemie der Lust". Im "Focus" geht es mehr um die Frage des intelligenten Umgangs mit Sexualität - "Lieben sie klug" -, im "Spiegel" geht es mehr um neue Wirkstoffe, um "Superviagra" und ähnliche Mittel zur Steigerung sexueller Potenz. Die Thematik liegt im Trend: Sexuelle Lust, genauer: Sexueller Lustgewinn ist nicht länger tabu, im Gegenteil, man redet offen darüber und vor allem öffentlich. Im Fernsehen werden Themen wie "Sex oder Liebe", "Leidenschaft oder Partnerschaft", "nacheinander oder nebeneinander" von allen Seiten beleuchtet und diskutiert. Dabei fehlen Fragen nach unheilvollen oder auch segensreichen Folgen eines Seitensprungs ebensowenig, wie Quizfragen über die Beschaffenheit von Geschlechtsorganen. Die sexuellen Tabus sind in unserer Gesellschaft überraschend schnell gefallen. Man kann sich unbeschadet, ja, vorteilhaft zur Homosexualität bekennen, man kann sich in Swingerclubs amüsieren, man kann sich jede Art von Pornos ins Haus holen. Das Angebot ist riesig.

Tatsächlich sind die Tabus nicht nur im Bereich der Sexualität gefallen. Unsere aufgeklärte, liberale, demokratische Wohlstandsgesellschaft hat die Fesseln alter Ideologien abgeworfen - religiöser, politischer, moralischer. Sie ist eine Gesellschaft mündiger Individuen. Nicht umsonst beginnt das Grundgesetz mit der Würde des Menschen, und die besteht, so sehe ich es als Evolutionsbiologe, in der Entscheidungsfreiheit. Wir können selbst entscheiden, was wir essen, wen wir lieben, was wir glauben. Das Rangstreben wird nicht mehr durch "Stände" verhindert, das Aufsteigen ist legitim, die Konkurrenz erlaubt. Neugier ist nicht länger eine Sünde - "sei nicht so neugierig!" - , wir dürfen, ja, wir sollen neugierig sein, wir sollen Herausforderungen aufsuchen und bewältigen. Frauen werden für Seitensprünge nicht mehr gesteinigt, Seitensprünge werden toleriert oder gar empfohlen.

Ich begrüße diese Entwicklung. Ich begrüße es, dass der Mensch in unserer liberalen Gesellschaft nicht länger durch starre Dogmen und durch eine lustfeindliche Moral gegängelt wird. Der verheerende Fehler der sogenannten großen Ideologien besteht doch darin, utopische Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft in ein System von Normen und Gesetzen zu pressen und dann zu verlangen, dass der reale Mensch sich diesem System anpaßt. Das gilt nicht nur für religiöse Systeme. Nehmen wir als Beispiel die ständische Gesellschaft des Mittelalters! Wie viel Leid und Verzweiflung hat dieses starre System verursacht! Ähnliches gilt für die sozialistische Utopie der Gleichheit, die noch immer in einigen Köpfen herumspukt. Aber die evolutionären Programme lassen sich nicht dauerhaft vergewaltigen. Das Normensystem einer Gesellschaft kann sich nicht dauerhaft gegen die Natur des Menschen richten. Es ist falsch und unmenschlich im wörtlichen Sinne, die Menschen zu zwingen, gegen ihre evolutionären Programme zu handeln, gegen ihre Bedürfnisse nach sexueller Lust, gegen ihr Rangstreben, gegen ihre Neugier und Abenteuerlust.

Ich begrüße die Befreiung von diesen Zwängen, ich begrüße die mühsam errungenen Werte der Selbstbestimmung, der Eigenverantwortlichkeit, der Selbstverwirklichung, der Erlebnisgesellschaft. Der Mensch in unserer heutigen Gesellschaft hat ein hohes Maß an Freiheit, an Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit gewonnen. Das entspricht unserer evolutionären "Menschwerdung": der Fähigkeit der Reflexion, der Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und in eigener Verantwortung zu handeln.

Allerdings müssen wir feststellen, dass es offensichtlich nicht so einfach ist, mit der gewonnenen Freiheit vernünftig umzugehen. Trotz sexueller Freiheit gibt es viel Enttäuschung, Frustration, Depression. So mancher sucht höchste sexuelle Lust durch ständig wechselnde Partner und leidet dann unter Mangel an Bindung. Die Scheidungsrate hat durch die gewonnene sexuelle Freiheit nicht abgenommen, im Gegenteil: die Beziehungskrisen nehmen zu. Viele Menschen bringen offensichtlich Partnerschaft und Leidenschaft nicht unter einen Hut und zerstören beides. Andere suchen höchste Lust durch Macht und Ansehen und erfahren dann Ablehnung, Haß und Isolation. So manche möchten ihr Leben auf Mallorca genießen und "sterben" vor Langeweile.

Woran liegt es, dass das durchaus menschliche Streben nach möglichst viel und möglichst intensiver Lust in unserer freiheitlichen Erlebnisgesellschaft oft wenig erfolgreich ist? Woran liegt es, dass bei der Ausübung der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung so viele Fehler gemacht werden?

Sicher gibt es mehrere Ursachen - Nachwirkungen traditioneller Normen, neue Ängste durch moderne Techniken, Unsicherheit durch Globalisierung etc. - , eine zentrale Ursache scheint mir jedoch im Mangel an Selbsterkenntnis zu liegen, im mangelnden Wissen über die Triebe des Menschen und andere evolutionäre Programme. Man kann sich aber nur dann vernünftig verhalten, wenn man die eigenen Motive kennt, die Quellen der Lust, die Folgen der Lust. Betrachten wir also zunächst einmal die Triebe!

Die Macht der Triebe

Obwohl im Grunde niemand bezweifelt, dass auch der Mensch Triebe hat - man spricht vom Nahrungstrieb, vom Sexualtrieb, vom Neugiertrieb, gelegentlich auch vom Aggressionstrieb -, liegt ein merkwürdiges Tabu über dem Wort Trieb. In hochgeistigen Kreisen, in geistlichen und geisteswissenschaftlichen, redet man, wenn überhaupt, von "niederen Trieben". Je erhabener der Geist, um so niederer der Trieb. Auch die Bezeichnung "Triebtäter" ist nicht gerade geeignet, Triebe salonfähig zu machen. Dazu kommt, dass die meisten Menschen beim Wort Trieb vorwiegend oder gar ausschließlich an den Sexualtrieb denken. Kurz und gut: unsere Triebe stehen auf der untersten Stufe, sie sind unerwünscht wie mißliebige Verwandte, sie stören unser Selbstverständnis als Kultur- und Geistwesen.

Auch viele Wissenschaftler, insbesondere Psychologen, distanzieren sich vom Triebbegriff. Sie verbannen den Begriff als "unwissenschaftlich" aus ihrem Vokabular, es sei denn, er wird als "Antrieb" getarnt. Woher kommt diese Einstellung? Wie kommt es zu diesem merkwürdigen Tabu?

Ich meine es sind zwei Gründe, die für diese Einstellung verantwortlich sind: die Überheblichkeit des Menschen und unsere lustfeindliche Tradition. Tatsächlich weisen die Triebe in geradezu unverschämter Weise auf unsere Verwandtschaft mit den Tieren hin. Das gilt insbesondere für den Sexualtrieb. Machen "es" die Tiere nicht ebenso wie wir? Das ist schon peinlich, aber offenbar auch faszinierend. Das Menschengedränge vor dem Affenkäfig entspringt nicht nur wissenschaftlichem Interesse. Ein zweiter Grund liegt in unserer gesellschaftlichen, religiösen und ideologischen Tradition. Noch heute gibt es Gesetze, nach denen "sexueller Lustgewinn" bestraft werden kann. Nur wenn es um die Besteuerung geht, wird auch ein "schmutziges" Gewerbe geduldet.

Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, ich möchte nur darauf hinweisen, wie belastet der Begriff Trieb noch immer ist. Dabei liegen die wahren Motive des Menschen in eben diesen Trieben, genauer: in der Lust der Triebbefriedigung, noch genauer: in der permanenten Steigerung dieser Lust. Um das zu zeigen, möchte ich zunächst in groben Zügen beschreiben, was ein Trieb ist, wie er funktioniert und welchen evolutionären Sinn die Triebe haben.

Eine Triebhandlung, z.B. Nahrungsaufnahme oder sexuelles Verhalten, wird aus zwei Quellen gespeist: den äußeren Reizen, z.B. Nahrungsreize oder sexuelle Reize und der inneren Triebstärke. Zentral ist die Erkenntnis, dass Tier und Mensch nicht nur auf äußere Reize reagieren, sondern auch spontan ansteigende Triebpotentiale und damit unterschiedliche Handlungsbereitschaften besitzen. Diese Spontaneität, dieser hochkommende Drang wird zuwenig beachtet oder überhaupt ignoriert. Das hängt sicher damit zusammen, dass man der wachsenden Triebstärke ausgeliefert ist, man kann sie nicht beeinflussen.

Es gibt also nicht nur mehr oder weniger hohe Reize, es gibt auch mehr oder weniger hohe Triebstärken. Zu einer Triebhandlung kommt es dann, wenn die Triebstärke hoch ist - dann genügen auch niedrige Reize - oder wenn der Reiz hoch ist, dann genügt auch eine niedrige Triebstärke. Dies gilt auch für den Menschen. Prüfen wir uns doch selbst! Wenn wir sehr hungrig sind, sind wir an einem Stück trockenen Brotes sehr froh, wenn wir aber gut gegessen haben und - der Lust wegen - noch weiter essen wollen, brauchen wir etwas besonders Leckeres. Und dies gilt nicht nur für den Nahrungstrieb. Selbstverständlich erfolgt eine Triebhandlung auch dann, wenn beide Quantitäten hoch sind: Reizstärke und Triebstärke. Es handelt sich hier um das "Gesetz der doppelten Quantifizierung".

Fehlt der auslösende Reiz, wird er aktiv, unter Umständen mit viel Anstrengung, aufgesucht: Tier und Mensch suchen nach Nahrung und zwar um so intensiver, je größer der Hunger ist, sie suchen nach einem Sexualpartner, wenn die Triebstärke den auslösenden Reiz erforderlich macht. In der Verhaltensbiologie wird dieses aktive und anstrengende Aufsuchen von Reizen als Appetenzverhalten bezeichnet. Lorenz nennt das Appetenzverhalten "ein urgewaltiges Streben, jene auslösende Umweltsituation herbeizuführen, in der sich ein gestauter Instinkt entladen kann." Mit welch gewaltiger Anstrengung auch wir Menschen nach auslösenden Reizen suchen, beispielsweise Nahrungsreizen oder sexuellen Reizen, weiß jeder, der diese lange entbehren mußte.

Das Appetenzverhalten macht den evolutionären Sinn der Triebe besonders deutlich: mit Trieben ausgestattete Lebewesen finden sich nicht mit einer vorliegenden Mangelsituation ab, sondern suchen eine günstigere Umwelt auf. Liegt keine Nahrung vor, wird sie aktiv aufgesucht, ist kein Sexualpartner vorhanden, wird er aktiv aufgesucht. In den Trieben liegen die Motive, die Beweggründe für Tier und Mensch.

Aber was treibt eigentlich an? Wie funktioniert das Getriebensein? Es funktioniert nach einem "genialen" Prinzip: Unbefriedigte Triebe werden mit Unlust erlebt, die Befriedigung der Triebe mit hoher Lust. Dieses Lustprinzip - Vermeidung von Unlust, Streben nach Lust - ist der eigentliche Motor, es überwindet die größten Anstrengungen und Gefahren. Jeder, der sich vor Hunger schon einmal gekrümmt hat - ich habe dies im Krieg erlebt - kennt das unbeschreibliche, lebensspendende Gefühl, ein Stück trockenen Brotes essen zu können. Aber auch jeder, der sich satt gegessen hat, kennt das starke Verlangen nach einer leckeren Nachspeise. Das Angebot ist entsprechend gigantisch.

Sexuelle Lust brauche ich nicht zu beschreiben. Die klügsten Köpfe der Menschheit Dichter, Philosophen, Wissenschaftler haben diese Lust beschrieben und zu ergründen versucht. Sexuelle Lust ist für viele Menschen - wahrscheinlich für alle - die höchste Lust schlechthin. Der Mensch nimmt nahezu jede Anstrengung, jede Entbehrung, jede Gefahr auf sich, um sexuelle Lust zu erleben, zu wiederholen, zu sichern. Mangelnde sexuelle Triebbefriedigung bedeutet Unlust in höchstem Maße, sie führt zu Depression oder Aggression, zu Lethargie und Krankheiten.

Betrachten wir den Neugiertrieb! Ist es nicht ungeheuer lustvoll, neue Informationen zu erhalten, neue Erkenntnisse zu gewinnen, neue Menschen kennenzulernen, neue Länder? Welche Anstrengungen wurden und werden unternommen, um die Erde zu erforschen, Erfindungen zu machen, Abenteuer zu erleben? Unbefriedigte Neugier bedeutet lähmende Unlust. Man wird von Langeweile gequält, die aufgestaute Gier macht einen rasend aggressiv oder depressiv. Ja, auch langfristig unbefriedigte Neugier führt zu psychischen und physischen Krankheiten.

Kann nicht auch Aggression außerordentlich lustvoll sein? Aggression besteht ja nicht nur in der Herabsetzung oder Schädigung anderer, Aggression ist auch Angabe, Imponierverhalten, sich über andere setzen. Welche Anstrengungen werden unternommen, um im Sport zu siegen, und wie überschäumend ist die Lust des Siegers, wie genießt er Anerkennung und Bewunderung der Fans und der Massen. Der unbefriedigte Aggressionstrieb erzeugt nagende Unlust. Der Verlierer im Sport ist frustriert, der nicht beförderte Mitarbeiter, der nicht mehr gewählte Politiker, natürlich auch derjenige, der unter Gewalt zu leiden hat.

Dass die Triebbefriedigung mit Lust verbunden ist, hat jeder schon erlebt. Dass auch Tiere schon solche Lusterlebnisse empfinden, zumindest höhere Tiere, insbesondere Affen, ist nach allen Beobachtungen zu urteilen, höchst wahrscheinlich. Man sehe sich einmal die Gesichter kopulierender Bonobos an! Der Mensch nimmt allerdings eine Sonderstellung ein: er ist sich durch seine Reflexionsfähigkeit nicht nur seiner Lust bewußt, er kann sie auch mit immer höheren Reizen steigern.

Die Frage nach der Entstehung von Lust läßt sich durch die Evolution beantworten. Schließlich ist die Lust so alt wie die Menschheit ja, sie ist - bezieht man die Tiere ein - mit Sicherheit noch wesentlich älter, sie gehört zur "Erfindung" der Triebe schlechthin. Sie ist eine Mutation mit Selektionsvorteil. Tatsächlich überleben ja nur solche Mutationen, die einen Vorteil mit sich bringen. Der Selektionsvorteil der Lust liegt auf der Hand: er liegt darin, dass die Tiere bessere Situationen aufsuchen, wertvollere Nahrung, begehrenswertere Partner. "Die Peitsche der Unlust und der Köder der Lust", wie Lorenz sagt, sorgen ursprünglich für verbesserte Lebens- und Fortpflanzungschancen. Der Lustgewinn bei Tieren hält sich allerdings in Grenzen, da die Natur nur selten üppige Reize anbietet. Gerade deswegen hat sich ja die Lustempfindung zum Selektionsvorteil entwickelt.

Der Mensch erlebt die Lust der Triebbefriedigung ganz bewußt, sie ist das höchste der Gefühle. Insofern ist es ganz selbstverständlich, dass er danach strebt, die Lust möglichst schnell und möglichst oft zu empfinden und womöglich noch zu steigern. Zu diesem Zwecke sucht er nicht nur immer neue und immer höhere Reize auf, er stellt sogar künstlich welche her. Er macht die Lust zum Ziel. Handelt es sich dabei um einen Glücksfall der Evolution oder eher um einen "Sündenfall"?

Versucht man noch weiter zurückzugehen und stellt die Frage, warum der Mensch nach Lustgewinn strebt, so stößt man auf ein Urphänomen des Menschen schlechthin. Während man nämlich bei allen anderen Fragen, beispielsweise bei der Frage der Reizsteigerung, auch die Frage nach dem "warum" beantworten kann, stößt man bei der Luststeigerung selbst auf den Urgrund menschlichen Verhaltens: der Mensch setzt höhere Reize, um seine Lust zu steigern. Warum tut er dies? - Weil er seine Lustempfindung steigern will. Epikur hat dies schon klar erkannt: "Darum nennen wir auch die Lust Anfang und Ende des seligen Lebens. Denn sie haben wir als das erste und angeborene Gut erkannt, von ihr aus beginnen wir mit allem wählen und meiden, auf sie greifen wir zurück, indem wir mit der Empfindung als Maßstab jedes Gut beurteilen."

Nein, hinter die Begründung "ich empfinde Lust", "es macht mir Spaß" oder wie man immer formulieren möchte, kann man nicht zurück. Es ist die Letzte. Versuchen wir es noch einmal: warum essen Sie noch einen Nachtisch? Weil ich Lust dazu habe! Warum wollen Sie Lust haben? - Dumme Frage! Wir sind auf das Urmotiv gestoßen: Die Steigerung von Lust.

Im Lustempfinden steckt das Urmotiv für Appetenzverhalten und Triebhandlung. Warum besteigt der Stier die Kuh? Hat er die Absicht seine Gene fortzupflanzen? Nein, er denkt nicht daran. Er will die Lust des Geschlechtsaktes erleben. Die Fortpflanzung ist nicht Absicht, sondern Folge! Diejenigen Tiere, die beim Sexualakt Lust empfinden, die ihn also möglichst häufig vollziehen, pflanzen sich auch am meisten fort. Die Verbreitung der Gene ist eine zwangsläufige Folge. So einfach ist das.

Natürlich gilt die Tatsache, dass die wahren Motive des Menschen in seinem Luststreben liegen, nicht erst für den heutigen Menschen. Das Lustempfinden ist ein überaus erfolgreiches evolutionäres Programm. Allerdings konnten im Laufe der Geschichte viele Menschen diese Lust nicht ausleben, sie wurde von Religionen, Ideologien und Herrschaftssystemen systematisch unterdrückt. Das ist kein Zufall. Jede Diktatur unterdrückt die Lust - bestehe sie in delikater Nahrung, extravagantem Sex, selbsterrungener Rangerhöhung oder anderem - und zwar aus einem sehr einfachen Grund: mit der Verleihung von Lust kann man den Menschen trefflich steuern. Wie dankbar und zu allem bereit sind hungernde Menschen, wenn sie Nahrung bekommen, wie dankbar und zu allem bereit sind Menschen, denen man einen höheren Rang verspricht oder verleiht und sei es nur ein ideeller als "Auserwählter" oder "Herrenmensch".

Tatsächlich ist die Steuerung durch Lustvergabe ein weiterer Beweis für die Lust als wahres Motiv menschlichen Handelns. Lustvergabe ist der Köder der Diktatoren. Menschen, die alle Möglichkeiten der Triebbefriedigung haben, die ihre Lust in eigener Regie steigern können, sind nicht mehr steuerbar. Womit auch?

Falscher Umgang mit den Trieben

Kommen wir zurück zu unserer aufgeklärten, liberalen und demokratischen Wohlstandsgesellschaft. Sie hat die Fesseln alter Ideologien abgeworfen, sie ist eine Gesellschaft mündiger Individuen, selbstbestimmter und eigenverantwortlicher. Jeder kann versuchen, seine Lust zu steigern. Denn das ist es, was der Mensch mit seiner Freiheit anfängt, auch wenn er es leugnet, wenn er Selbstlosigkeit vorschiebt, das Wohl der Gemeinschaft, die Erfüllung moralischer Pflichten etc. Jeder kann im Rahmen notwendiger - nicht ideologischer! - moralischer und gesetzlicher Regelungen seine Triebe befriedigen und seine Lust steigern. Ich begrüße die gewonnene Freiheit im Umgang mit den Trieben, dem Streben nach Lust, ich begrüße auch die zunehmende Ehrlichkeit und Offenheit bezüglich der wahren Motive des Menschen. Aber warum gehen so viele Menschen unvernünftig mit ihrem Luststreben um? Warum schädigen sie sich selbst, die Gesellschaft, die Umwelt?

Nehmen wir als Beispiel die Verwöhnung! Unter Verwöhnung verstehe ich die Steigerung von Lust durch immer höhere Reize unter Vermeidung von Anstrengung, kurz: Lust ohne Anstrengung. Tatsächlich sind wir, evolutionär gesehen, eine verwöhnte Gesellschaft. Wir können Reize steigern und Anstrengung vermeiden. Aber wir sind nicht die Erfinder der Verwöhnung. Die Erfindung der Verwöhnung geht sehr weit zurück. Sie geht zurück bis zu der uralten Vorstellung des Schlaraffenlandes. Die Vorstellung des Schlaraffenlandes ist hochinteressant. Der Mensch war offenbar schon immer des Glaubens, das Glück liege darin, alles zu haben und nichts zu tun. Freilich: der Urmensch konnte sich nicht verwöhnen, er hatte ein hartes Leben als Jäger und Sammler. Bauern im Mittelalter oder Handwerker konnten sich nicht verwöhnen, auch sie hatten ein hartes Leben. Früher konnten sich nur wenige Menschen verwöhnen. Die Könige, die Fürsten, die Reichen haben sich auch früher schon verwöhnt. Heute haben wir eine Wohlstandsgesellschaft, heute haben wir eine Massengesellschaft, und deswegen tritt Verwöhnung massenhaft auf. Verwöhnung hat aber schlimme Konsequenzen. Verwöhnung führt zu Krankheiten, man denke an Bewegungsmangel oder falsche Ernährung, Verwöhnung führt zu "aggressiver Langeweile", Verwöhnung führt zu Drogenkonsum. Ja, die Droge ist Lust ohne Anstrengung. Sie ist der Gipfel an Verwöhnung. Ich habe dies an anderer Stelle ausführlich begründet. Hier möchte ich nur feststellen: der Versuch, die Lust durch Verwöhnung zu steigern, führt letztlich in die Katastrophe - für jeden einzelnen und für die Gesellschaft.

Ein anderes Beispiel mißlungener Luststeigerung ist das Imponierverhalten. Darunter verstehe ich die Heraufsetzung der eigenen Person mit der Absicht, andere zu beeindrucken und dadurch Lust zu gewinnen. Ich verdeutliche dies am Beispiel des Ordensträgers. Wenn jemanden ein Orden verliehen wird für besondere Verdienste um die Menschheit, so handelt es sich um eine besondere Form von Anerkennung. Wenn aber der Ordensträger seinen Orden bei jeder Gelegenheit am Revers oder am Pullover zur Schau stellt, so erhebt er sich über völlig Unbeteiligte und versetzt sie in einen untergeordneten Rang. Ich erlebe es immer wieder, wie sich bei festlichen oder weniger festlichen Veranstaltungen solche Ordensträger Aggressionslust verschaffen. Ähnliches gilt auch für Titel. Erstarrt bei vorgehaltenen Ehrentiteln nicht jeder normale Mensch in Ehrfurcht?

Gewiß gibt es mehr oder weniger harmlose Formen des Imponierverhaltens, z.B. durch exklusive Kleidung oder teure Autos, es gibt aber auch äußerst gefährliche Formen. So hat das Imponierverhalten von Diktatoren und deren Helfern unsagbares Unglück über die Menschheit gebracht. An dieser Stelle geht es mir um etwas Alltägliches. Es geht mir um die Feststellung, dass diese Art von Aggressionslust zur Erniedrigung anderer führt, also zu weiterer Aggression, vor allem aber zum Verlust an Bindung.

Ein weit verbreiteter Triebkonflikt besteht zwischen Sexualität und Bindung. Gerade in letzter Zeit wird dieses Thema - Partnerschaft oder Leidenschaft, offene Ehe, Seitensprung etc. - in der Literatur und im Fernsehen leidenschaftlich diskutiert. So gibt man in unserer von Lusttabus befreiten Gesellschaft zu, dass in längeren Partnerschaften der sexuelle Reiz nachläßt oder ganz verlorengeht, während die Bindung durchaus bestehen bleiben kann. Soll man nun in einer solchen Situation sexuelle Lust bei anderen "Sexualobjekten" suchen? Verliert man damit nicht auch noch die Bindung zum Partner? Kann man sexuelle Reize innerhalb der Partnerschaft zu neuem Leben erwecken? Ist Eifersucht für eine Beziehung erforderlich oder schädlich? Man sieht: es ist nicht leicht, Lust insgesamt zu optimieren. Viele Versuche jedenfalls, ein Maximum an Lust herauszuholen, scheitern über kurz oder lang.
Der ausgiebige oder gar einseitige Lustgewinn auf einem Trieb, zieht häufig den Lustverlust auf anderen Trieben nach sich. So führt bekanntlich das intensive Streben nach Rang oder Macht zur Vernachlässigung von Bindung an Familie und Freunde. Der sexuelle Lustgewinn durch häufigen Wechsel der Sexualpartner führt zwangsläufig zu einem Defizit an Bindung. Aber auch die Suche nach Flow, nach dem ultimativen "Kick" kann Bindung zerstören.

Ich sehe hier ein neues Phänomen, ein aufregendes und interessantes: die Befreiung des Menschen vom Tabu des Lustgewinns führt zu Versuchen, die Lust zu maximieren. Dabei greift der Mensch in sein vernetztes Triebsystem ein und erzeugt - wie dies von anderen Eingriffen des Menschen in natürliche Systeme ja schon bekannt ist - verhängnisvolle Turbulenzen ja, er erreicht oft das Gegenteil des Gewünschten: die Vermehrung von Unlust, die Schädigung von sich selbst und anderen.

Bei der Durchführung des Lustprinzips kommt eine neue Dramatik zum Ausdruck: nicht mehr vorgegebene Stände oder sexuelle Verbote führen zu dramatischen Verwicklungen - es sind die ignoranten, die naiven, unvernünftigen, radikalen Eingriffe in unser komplexes Triebsystem. Muß das so sein? Kann der Mensch seine Lust nicht doch optimieren?

Das Leben genießen?

Immer wieder höre ich von Menschen, die in Urlaub fahren, in Rente gehen oder durch viel Geld unabhängig geworden sind: "jetzt will ich mein Leben genießen". Aber das scheint gar nicht so einfach zu sein. Das ständige Herumliegen am Strand macht träge und übellaunig, erzeugt aggressive Langeweile mit allen Folgen. Also macht man Aktivurlaub, treibt Sport oder beschäftigt sich mit dem und jenem. Aber das erwartete Glücksgefühl stellt sich auch dann nicht immer ein.

Also sehen wir mal beim Fachmann nach, z.B. bei Mihaly Csikszentmihalyi! In seinem Buch "Flow - das Geheimnis des Glücks" postuliert er, dass man die Dinge selbst in die Hand nehmen müsse. Man müsse "alle zur Verfügung stehenden Instrumente anwenden, um sich ein sinnvolles, erfülltes Leben zu schaffen." Csikszentmihalyi gibt auch den Weg zu diesem Ziel an: das Flow-Erlebnis. Flow erlebt man dann, wenn man angemessene Herausforderungen bewältigen kann, wenn der Bergsteiger die Felswand bezwingt, der Chirurg schwierige Operationen durchführt, der Wissenschaftler Erkenntnisse gewinnt, der Musiker sein Instrument beherrscht. Flow erfordert volle Konzentration. Flow ist ein tolles Gefühl. Man geht in der Tätigkeit auf. Flow bringt, wie Csikszentmihalyi sagt, das Leben auf eine höhere Ebene. Flow ist das "Geheimnis des Glücks".

Nun wird niemand bezweifeln, dass es ein tolles Gefühl ist, eine Herausforderung erfolgreich zu bewältigen, ein erhebendes Gefühl, ein Glücksgefühl. Zu bezweifeln ist nur die These, dass es sich um das einzige Gefühl höchsten Glückes handelt. Sexuelle Lustgefühle sind ja nicht minder intensiv. Man geht ja ebenfalls in diesem Gefühl auf, total, bis zur Ekstase. Was sagt Csikszentmihalyi dazu? Natürlich kennt auch Csikszentmihalyi die extremen Glücksgefühle der Sexualität und er sagt zu Recht, "dass die meisten unserer Handlungen direkt oder indirekt von sexuellen Bedürfnissen geleitet seien", aber er weiß auch, wie leicht die sexuelle Lust schal werden kann. "Besonders schwer ist es, jahrelang mit dem gleichen Partner Freude an Sexualität zu bewahren." Wie aber kann man Liebe frisch erhalten? Hier gibt Csikszentmihalyi einen für ihn typischen Rat: "Die Beziehung soll immer komplexer werden, man sollte zusammen reisen, das gleiche Buch lesen, Kinder großziehen, Pläne schmieden und verwirklichen - alles wird erfreulicher und sinnvoller." Schön, aber wird auf diese Weise sexuelle Lust gesteigert? Wird nicht vielmehr gemeinsam Flow erlebt? Verrät sich Csikszentmihalyi nicht schon durch die Überschrift des Kapitels "Sex als Flow"?

Ein anderer berühmt gewordener Glücksautor ist Dale Carnegie. Auch ihm geht es um "die Kunst, beliebt, erfolgreich und glücklich zu werden." Was empfiehlt Carnegie? Zunächst bestätigt er - der Sache nach - die Erkenntnisse über Flow, wobei er insbesondere den Flow in der Arbeit hervorhebt. "Machen sie ihre Arbeit mit Begeisterung", fordert Carnegie. Und er gibt zahlreiche Beispiele von Menschen, die nach diesem Prinzip gehandelt haben. Interessant dabei ist, dass es sich bei diesen Beispielen immer um berühmt gewordene Persönlichkeiten handelt, sei es ein "großer" Architekt, eine "große" Sopranistin, eine "bekannte" Schriftstellerin, ein "bekannter" Kommentator usw. Das Glück scheint also nicht so sehr, wie bei Csikszentmihalyi in der Tätigkeit selbst, im Flow zu liegen, als vielmehr im Erfolg, in Rang und Anerkennung. Folgerichtig empfiehlt Carnegie auch, seine Mitmenschen zu loben oder sonstwie anzuerkennen. Mit einer solchen Strategie erreicht man danach das Glück, beliebt zu sein, Bindung zu erfahren.

In jedem Falle habe ich folgendes festgestellt: in allen glück- oder erfolgversprechenden Büchern geht es - ohne ausdrücklichen Hinweis - um die Lust einzelner Triebe und um Empfehlungen, diese Lust zu steigern. Gelegentlich geht es auch um die Kombination von Trieben, etwa um Flow und Aggression, Sexualität und Bindung. Auf die Frage, welche Kombinationen grundsätzlich zu Unglück und Verderben führen, und welche Kombinationen Glück und Erfolg verheißen, habe ich keine Antwort gefunden. Ich will versuchen, sie in der Verhaltensbiologie zu finden.

Der Schlüssel scheint mir im Gesetz der doppelten Quantifizierung zu liegen. Erhöht man nämlich - bei irgendeinem Trieb - die Reizstärke immer mehr, so erfolgt die Triebhandlung schon bei verhältnismäßig niedriger Triebstärke. Das bedeutet aber: die Lustempfindung ist nicht maximal. Zum Zwecke der Luststeigerung muss auch die Triebstärke möglichst hoch sein. Das erreicht man natürlicherweise durch das Appetenzverhalten: man muss sich anstrengen, um entsprechende Reize, insbesondere hohe Reize zu erlangen. Der Leistungssportler strengt sich an, um hohe Anerkennung zu bekommen, der Musiker übt mit großer Ausdauer, um vor sich und dem Publikum zu bestehen, der - gute - Lehrer bereitet sich sorgfältig vor, um seine Schüler zu begeistern usw.

Hohe Anstrengung und hohe Reize führen zu einem Maximum an Lust. Das gilt für alle Triebe. Luststeigerung durch Anstrengung erfüllt zudem unser evolutionäres Aktivitätsprogramm: wir sind ja auf Anstrengung programmiert und nicht auf das Schlaraffenland.

Noch eines ist wichtig beim Bestreben, Lust zu steigern: die Streuung über möglichst viele Triebe. Luststeigerung auf einem einzigen Trieb führt leicht zur Sucht oder zur Unlust auf anderen Trieben.

Wie man im Einzelnen Lust durch Leistung steigern kann, habe ich an anderer Stelle ausgeführt, hier kam es mir darauf an, Lust an Leistung oder besser: Lust durch Leistung als Lebenskunst aufzuzeigen.



Literatur:

Carnegie, Dale: Freu dich des Lebens! München 1997
Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow - Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart 1992
von Cube, Felix: Lust an Leistung. München 2002