Prof. Dr. Peter Glotz

Freiheitliche Demokratie in der globalen Informationsgesellschaft

    Silicon Politics

Von Bill Clinton und seiner Familie gibt es berühmte Urlaubsbilder, die angeblich von Heckenschützen gemacht worden seien: Der Präsident mit Frau und Tochter, alle im Badedress, ein Bild vollkommen natürlicher Familienharmonie. Clinton hat sich über den Vertrauensbruch des Fotografen und derer, die die Bilder publizierten, bitter erregt. Aber war dieser Fotograf wirklich ein Paparazzo? Könnte er nicht auch ein mit freundschaftlichen Hinweisen von Clintons Kommunikationsberatern versehener Hausfotograf gewesen sein? Ist es nicht denkbar, daß der vorgebliche Einbruch in die Privatsphäre der Familie Clinton zeigen sollte, daß diese Familie trotz der Untreue des Ehemanns immer noch eine Familie ist?

Der Dortmunder Politikwissenschaftler Thomas Meyer vermutet das. Politiker in der telematischen Gesellschaft wüßten, daß Mimik, Gestik und die Alltagesepisoden aus ihrem Privat- oder gar Intimleben besondere Meta-Botschaften seien, die maßgeblich über ihre auch professionellpolitische Glaubwürdigkeit entschieden. Deswegen spielten sie ein Verwirrspiel; die Hinterbühne würde oft als Vorderbühne benutzt. "Als die erwähnten Urlaubsbilder um die Welt gingen, die Clinton in derselben Pose zeigten, wie die tausendfach in der Öffentlichkeit gestellten, hat er in den Augen all derer, die glaubten, hier sei von den penetranten Medien ein privater Augenblick entweiht worden, die gestellten Bilder seiner glücklichen Familie mit einem Male zum wahren Ausdruck seines wirklichen Charakters geadelt. Clintons öffentliche Entrüstung über den vorgeblichen Frevel war die Vollendung dieser Inszenierung eines großen Meisters, das Siegel auf die Authentizität der Inszenierung."

In der Tat muß man am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (in der Regel) einer solcher Meister sein, wenn man politische Spitzenämter in großen, technisch avancierten Gesellschaften erreichen will. Die Anforderungen an politische Gesichter steigen. Es gibt eine Verquickung von symbolischer und realer Politik, Macht muß visualisiert werden, die politische Inszenierung - die es natürlich zu allen Zeiten gegeben hat - wird immer wichtiger. Man kann die landläufige Kritik an dieser Entwicklung im Begriff "Politainment" zusammenfassen; das vernichtende Urteil von Neil Postman über diese Entwicklungstendenz des späten zwanzigsten Jahrhunderts haben wir schon zur Kenntnis genommen. Die Vorwürfe lauten: Überinszenierung der Politik als Theater, Placebopolitik zu Verstellungszwecken, Entpolitisierung der politischen Öffentlichkeit (Meyer) Gesichter würden wichtiger als Programme, visuelle Beeindruckungsstrategien und ästhetische Reizwerte überwucherten das diskursive Argument. Die spindoctors übernähmen die Macht. Sind die Wahlkämpfe von Bill Clinton in den Vereinigten Staaten, Tony Blair im Vereinigten Königreich und Gerhard Schröder in Deutschland nicht schlagende Beweise für diese Behauptungen?

Die Beobachtungen, die dieser Kritik zugrundeliegen, sind sicher richtig. Die Darstellungskunst überwuchert in den modernen Mediengesellschaften immer stärker die Kunst der Politik. Man muß sich nur kritisch fragen, woran das liegt. Die charakterologischen Vorwürfe gegen die Hauptdarsteller (Schröder sei eben ein oberflächlicher "Telepolitiker", ein "Medienkanzler", eine "Ulknudel") greifen mit Sicherheit zu kurz. Eine ernsthafte Erörterung verdienen dagegen zwei andere Bedenken. Könnte es sein, daß die Theatralisierung der Politik eine Folge des Machtverlusts der politischen Klasse ist? Das würde bedeuten, daß der digitale Kapitalismus die Rolle der Politik zurückgestuft hat und die Politiker zwingt, ihre Unfähigkeit, bestimmte Mißstände abzustellen, durch Schauspielerei zu übertünchen. Die zweite höchst berechtigte Frage richtet sich auf den Aggregatzustand der Mediengesellschaft. Wenn man den Netzeuphorikern glaubt, also Al Gore, Newt Gingrich und den durchschnittlichen Investoren in das erhoffte Multimedia-Geschäft, dann stehen wir an der Schwelle zur einer neuen Demokratie, der Hyper-Democracy, einem neuen athenischen Zeitalter der Demokratie. Das Internet werde die Politik verändern, und diese Veränderung werde zu einer Verstärkung von Partizipation und Demokratie führen. Man kann also die Frage stellen, ob die televisuelle Inszenierung der Politik an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert nichts als eine Spätphase der Ära der technischen Bilder darstellt? Vielleicht wird mit dem Docuverse des Internet alles anders? Beide Überlegungen verdienen eine systematische Prüfung.

    Bild und Diskurs

Nun kann man so manche der gängigen Verurteilungen heutiger Politik achselzuckend auf sich beruhen lassen; sie transportieren nicht wissenschaftliche Befunde, sondern alte Ängste. Schon beim großen Jubilar heißt es:

"Dummes Zeug kann man viel reden,
kann es auch schreiben,
wird weder Leib und Seele töten,
es wird alles beim Alten bleiben.
Dummes aber vor's Auge gestellt,
hat ein magisches Recht:
weil es die Sinne gefesselt hält,
bleibt der Geist ein Knecht."
(Goethe, Zahme Xenien)

 

Sicher haben technische Bilder einen besonderen Wahrheitsanspruch, bieten sie eine dichte Realitätsillusion. Und ohne Zweifel leben wir seit Erfindung der Fotografie, seit Entwicklung des Tonfilms und des Fernsehens in einer Epoche der "Revisualisierung" (Thomas Meyer). Fragt sich nur, ob diese Versinnlichung wirklich ins Irrationale führen muß? Vielleicht ist die Idealisierung des protestantischen Predigtgottesdienstes, der elitären Sinnkommunikation der Moralischen Wochenschriften und der stundenlangen politischen Redeschlachten irgendwelcher Heroen der Lincoln-Zeit fragwürdige Romantik? Das Bilderverbot der jüdischen und islamischen Religion und die Bilderfeindlichkeit der Reformation - die zu einem "Machtverlust der Bilder" (Hans Belting) führte - wurzelt sicher in tiefen Schichten. Aber ist es berechtigt, den calvinistischen Sturm gegen den Bildkult heute noch weiterzupraktizieren? Verbaut man sich damit nicht eine umfassendere Welt- und Selbsterfahrung? Ist Bild-Propaganda wirklich soviel manipulativer als Wort-Propaganda?

Das menschliche Gehirn hat für die Verarbeitung von Texten und Bildern verschiedene Verarbeitungsmodi. Texte werden sequentiell aufgenommen, während Bilder schneller parallel verarbeitet werden. Sie machen also "mehr Eindruck". Aber muß man sie deshalb fürchten und bannen? Es gibt einige ganz brauchbare pragmatische Argumente gegen die allzu selbstquälerische Verdammung der Fernsehkultur. Erstens: Gelegentlich ist die Körpersprache eines politischen Akteurs erhellender (und auch verräterischer) als der (eingebimste) Text. Bilder können nicht nur faszinieren, sondern auch decouvrieren. Zweitens: Fernsehbilder sind ja nicht autonom, sondern dekorativ und illustrativ. Im Fernsehen werden nicht nur Bildfolgen gezeigt, es wird auch gesprochen. Es wäre eine alberne Übertreibung, das Fernsehen als reines Bildmedium zu betrachten und so zu tun, als ob es abstrakte Begriffe überhaupt nicht transportieren könnte. Drittens: Sicherlich muß jeder Spitzenpolitiker heute fernsehtauglich sein - und es ist möglich, daß Leute an die Macht kommen, die fernsehtauglich, aber nicht politiktauglich sind. Es ist aber kein Gesetz, daß die Fernsehtauglichen alle politikuntauglich sein müssen. Viertens: Die Magie theatralischer Politik erreicht größere Volksmassen als der elitäre Diskurs, der die Wahrheit nurmehr in abstrakte Begriffe fassen will. Er nimmt also Menschen mit, die sonst von Politik gar nicht berührt würden. Deswegen hat Gerhard Schröder nicht ganz unrecht, wenn er die Kitik an seinen Auftritten in Unterhaltungssendungen als "hochmütig" bezeichnet. Und schließlich fünftens: Die Mehrheit der Leute ist bei weitem nicht so töricht, wie Politiker und Akademiker glauben. Politische Inszenierungen (die viel mit dem Bild arbeiten) sind nicht undurchschaubar und werden von viel mehr Menschen durchschaut, als den Spin-doctors lieb ist.

    Symbolische Politik

All diese Relativierungen schaffen allerdings den Eindruck einer Entsubstantialisierung von Politik in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts nicht aus der Welt. Die neue Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas) erzwingt vielfältige (und gelegentlich krampfartige) Anstrengungen, komplexe Situationen zu vereinfachen: Durch Personalisierung, die Wiederholung bestimmter Handlungsabläufe (Rituale), große Erzählungen, ikonische Verdichtung (Mythen) und Ersatzhandlungen. So scheint das Zeigen und Darstellen von Entscheidungen oft genug wichtiger zu werden als das Entscheiden selber.

Symbolische Politik in diesem Sinne hat es, wie gesagt, immer gegeben. Pilatus wusch sich die Hände in Unschuld, Heinrich ging nach Canossa und verharrte barfuß tagelang vor einem Palast des Papstes, Willy Brandt sank im Warschauer Ghetto in die Knie. Nicht das bedeutsame Zeichen, das Symbol ist kritikwürdig, sondern die Ersetzung von Aktion und Problemlösung durch Symbole. Diese Strategie nimmt in den medialisierten Gesellschaften unserer Jahre in der Tat irritierend zu.

Das heißt nicht, daß es im digitalen Kapitalismus keine Politik mehr gäbe, wie einige unserer Datendichter und Modephilosophen behaupten. Der skeptische Chronist der Theatralisierung der Politik, Thomas Meyer zieht ein faires Resümee:

    "Die Logik des Politischen in der Politik wird in all ihren Dimensionen überlagert und durch neue, medien- und inszenierungsbezogene Faktoren ergänzt und verformt, aber nicht annulliert.
    Die Macht der Darstellungskunst gewinnt kräftig an Boden im Leben der Politik, aber das politische System bringt nicht nur darstellendes Handeln hervor ...
    Die Karten für die Macht und Karrierechanchen der Stars werden neu gemischt und anders verteilt, aber die Akteure und ihre Machtquellen bestimmen das Geschehen, und sie tragen Verantwortung."

Aber die Politik verdünnt sich. Wenn das rote Lämpchen an der Kamera aufleuchtet, soll der Kommunikator souverän, gelassen, versöhnlich und kompetent sein. Was, wenn einmal gar kein Anlaß besteht, gelassen und versöhnlich zu sein? Was, wenn eine Lage auftritt, in der niemand kompetent sein kann? Das Publikum vergleicht den Darsteller Bill Clinton mit dem Darsteller Michael Douglas, der Bill Clinton spielt. Clinton läuft das Risiko, daß die Leute Douglas besser finden. Was dann? Was wird angesichts dieses Konkurrenzkampfes aus der Wahrheit und den dürren Notwendigkeiten der alltäglichen politischen Praxis? Muß man gelegentlich den Irak oder Serbien bombardieren, um zu zeigen, was Souveränität und Stärke ist?

    Internet und Politik

Die Theatralisierung der Politik ist, wie gesagt, vor allem eine Erbschaft aus der Ära der technischen Bilder (die ja andauert). Ändert sich alles wieder, wenn nun die computervermittelte Kommunikation immer mächtiger wird, wenn also immer mehr Menschen mit immer geringerem Aufwand und immer geringeren Kosten zum Sender werden und beliebig große mailinglists mit einem einzigen Mouse-Klick mit Botschaften versorgen können? Wird die Theatralisierung durch die Textwelt des Internet relativiert?

Auch bei dieser Frage gibt es natürlich das übliche Gezänk der Medienoptimisten mit den Medienpessimisten. Die einen vermuten die Entmachtung der Mächtigen, die Schwächung der Intermediäre, eine grandiose Aufwertung der many to many- Kommunikation. Bei diesen Prognosen ziehen die Misantrophen nur die Mundwinkel herunter. Sie befürchten eine Zerfaserung des öffentlichen Raums in völlig unverbundene Teilöffentlichkeiten, die Entmachtung funktionierender (nämlich nationaler) Öffentlichkeiten und einen Repräsentationsverlust der politischen Eliten. Wer über eine ausreichend gefestigte Weltanschauung verfügt, kann sich die Fakten noch allemal zurechtbiegen.

Wer diese Fakten ernst nimmt, kommt allerdings zuerst einmal nicht daran vorbei, daß die Telematik, deren Inbegriff das Internet ist, die Abschottung von Diktaturen, das heißt die Durchsetzung zentral geleiteter Kommunikation deutlich erschwert hat. Die Macht, die Joseph Goebbels über die Köpfe der Deutschen gehabt hat, hat heute kein Propaganda-Minister mehr. Noch versuchen zwar Nordkorea und Myanmar die physische Verbindung zum Internet zu untersagen. Auch China und Singapur bemühen sich darum, diesen Zugang wenigstens an strenge Bedingungen zu knüpfen. Aber die Kosten solcher Autonomie sind prohibitiv. Künftig werden erdnahe Satellitensysteme - wie Iridium und Teledesic - jeden Ort der Welt erreichen. Die Intellektuellen mancher Entwicklungsländer kommentieren das bitter; jetzt würde die Macht der großen amerikanischen Bewußtseinskonzerne unbeschränkbar. Es gibt aber eben auch die andere Seite der Münze: Die Belgrader Studenten, die sich gegen die autoritäre Herrschaft von Slobodan Milosevic wehren, haben plötzlich eigene Medien in der Hand, ebenso die chinesischen Oppositionellen, die gegen ihre Obrigkeit kämpfen. Studenten irgendeiner amerikanischen Law-School können dafür sorgen, daß Informationen aus dem Kosovo ständig im Internet verfügbar sind. Wer vertrauliche deutsche Regierungsdokumente lesen will, kann manche von den Amerikanern bekommen, die diese aufgrund ihres Freedom of Information Act freizügiger behandeln müssen. Die UNO oder Amnesty International können heutzutage besser kontrollieren, ob ein Staat seine völkerrechtlichen Verpflichtungen einhält. Die Hoffnungen der Weltrevolutionäre auf die systematische Anleitung der Menschen haben sich ebensowenig bewahrheitet wie die Angstträume George Orwells vom Großen Bruder und einer allmächtigen Gedankenpolizei. Am ehesten Recht behalten hat ein heiterer und hutloser deutscher Schriftsteller namens Enzensberger, der in einem kleinen Gelegenheitsaufsatz aus dem Jahr 1970, also noch vor Erfindung des Personalcomputers, das hohe Lied der Dezentralisierung sang.

Aus diesen Feststellungen sollte man keine falschen Schlußfolgerungen ziehen. Die Rede war von Sternstunden des Internet, nicht vom hundsgewöhnlichen Alltag, in dem sich kapitalstarke Netzunternehmer und ressourcenstarke institutionelle Anbieter (wie Staat und Parteien) natürlich trotzdem breiter machen als irgendwelche Habenichtse, die nur über Phantasie und Computer-Literacy verfügen. Immerhin: die Web-Side des deutschen Bundespräsidenten (www.bundespraedident.de) hatte im Sommer 1997 nur achthundert bis tausend Besuche wöchentlich aufzuweisen; Beth Mansfields Side "Persian Kitty's adult links" dagegen 425.000 Besuche pro Tag. Das zeigt nicht nur die vergleichsweise geringe Bedeutung der Politik im Netz (rund 1 % der Angebote), es zeigt auch, daß Netzreputation nicht notwendigerweise (jedenfalls nicht ausschließlich) an hohen Ämtern oder hohem Geldeinsatz hängt. Wie immer man die neuen Chancen dieses neuen Mediums definiert: Ob man von Citizen Empowerment oder von neuen "Möglichkeiten zum Widerspruch" spricht, unübersehbar ist eine gewisse Erweiterung der Chancen der Bürger zur Kontrolle ihrer Regierungen und neue, spontane Organisationsmöglichkeiten. Daß diese rasche Assoziationsfähigkeit eher flüchtige soziale Bewegungen begünstigt als klassische Organisationen mit ihrer Logik der Mitgliedschaft (und dadurch korporatistische Gesellschaften schwächt) steht auf einem anderen Blatt.

Der wichtigste Einwand gegen die These, daß das Internet bestimmte Demokratisierungschancen mit sich bringe, rührt von der elitären Komposition der Netizens. Der Anteil von Leuten mit einem hohen formalen Bildungsabschluß ist fast dreimal zu hoch wie in der Gesellschaft. Fast dreißig Prozent der Online-Nutzer haben ein Netto-Haushaltseinkommen von 6000 DM oder mehr. Es gibt vier Dimensionen der Ungleichheit: Geschlecht, Alter, Bildung und Einkommen. Deswegen sagen manche, es seien die gesellschaftlichen Eliten, die sich des neuen Mediums bedienten und es seien - jedenfalls im Weltmaßstab - die Reichen.

Greenpeace-Aktivisten profitieren vom Internet stärker als ungelernte Arbeiter in Schottland. Kleine, gut organisierte Lobby-Organisationen sind eher in der Lage, die mailbox eines Abgeordneten zu verstopfen als niederbayrische Jugendliche ohne Ausbildungsplatz. Aber einmal ist es ganz und gar nichts Ungewöhnliches, daß neue Medien zuerst einmal von Eliten genutzt werden. Mit der Zeit flacht sich dieser Effekt ab. Und zum anderen ist die Beteiligung an der Demokratie, zynisch gesagt, sowieso eine Angelegenheit von besonders gestimmten Minderheiten. Das technische Potential der Netze liegt jedenfalls bereit, um einen Beteiligungsschub aus der Gesellschaft herbeizuführen. Einige Dutzend intelligente Projekte - von einem "Perikles Network" in Athen über den Virtuellen Ortsverein der deutschen Sozialdemokratie bis zum Projekt Minessota E-Democracy- zeigen das.

Die Idee, das repräsentative System der westlichen Demokratie durch permanente Computerabstimmungen auszuhebeln, ist sicherlich abwegig. Weder der Sachverstand professioneller Politik noch die persönliche Zurechenbarkeit von Entscheidungen sind verzichtbar. Das Fazit muß also doppeldeutig ausfallen, etwa im Sinne Claus Leggewies: "Weder wird dank das Internet ein neues athenisches Zeitalter anbrechen noch wird an ihm die repräsentative Demokratie zugrunde gehen. Der politische Prozeß aber wird sich Schritt für Schritt verändern. Die klassischen politischen Akteure haben das noch gar nicht so richtig bemerkt.

Er ändert sich vor allem durch die spürbare Schwächung des bisher mächtigsten "powercontainers", des Nationalstaats. Seine Herrschaft sinkt zu einem vergleichsweise schmalen Bündel von Dienstleistungen herab. Der Nationalstaat wandelt sich vom Monopol zum Club; man kann - zumindest teilweise - austreten. Christoph Engel hat das böse Bild von der Cafeteria gebraucht. Früher mußte jeder Deutsche sich allen Regulierungen unterwerfen, die der deutsche Nationalstaat erließ. Jetzt könne jeder, eben wie in einer Cafeteria, nur das verzehren, was ihm schmecke.

Das liegt an den gewachsenen Chancen zur Abwanderung. Die Lufthansa hat ihr Abrechnungszentrum für benutzte Flugscheine nach Indien verlegt. Ein marrokanisches Unternehmen übernimmt den Computersatz für 20 Prozent aller in Frankreich erscheinenden Bücher. Das heißt: Unternehmen können Wertschöpfungsketten durchschneiden. Der Einzelne hat im übrigen größere Chancen zur Steuerflucht als je; bald werden direkte Steuern immer stärker durch indirekte ersetzt werden. Das führt zu einer schleichenden Erosion der Steuerbasis und damit zu einer Entkräftung des umverteilenden Sozialstaats. Die mobilen Teile des Zweidrittelblocks können im digitalen Kapitalismus sogar physisch retirieren. Mit email, discussiongroups, Internet-Zeitungen und dem modernen Telefonsystem kann man auch aus der Karibik in Düsseldorf Einfluß nehmen. Das hat die Konsequenz, daß die Staaten nicht mehr vollständig Herr im eigenen Haus sind.

Natürlich ist es möglich, auf diese Veränderungen intelligent und flexibel zu reagieren; durch neue Steuerarten, internationale Vereinbarungen, neuartige Staatenverbünde, den intelligenten Umbau von Staatlichkeit, z. B. Referenden und manch andere Reformen. Die Begünstigung der vielseitigen, beweglichen, sozusagen beschleunigungsfähigen, technisch, sprachlich und psychologisch "internettauglichen" Milieus ist dabei ganz unbestreitbar. Das wird zu jenen Kulturkämpfen zwischen Zweidrittelblock und drittem Drittel führen, die ich im vorigen Kapitel beschrieben habe. Es ist nicht gesagt, daß geradezu ein Heiliger Krieg gegen die Moderne entsteht. Eine Flucht des unteren Gesellschaftsdrittel in die Einfachheit ist aber ohne viel Risiko vorherzusagen. Wer sich weigert, in einer Vielzahl von Rollen zu spielen, rutscht ab. Dann sucht er Halt bei strengen Ideologien. Individualistisch geprägte Staatsgebilde (wie die USA, England oder Australien) werden mit dieser Entwicklung leichter fertig werden als korporatistische (wie Deutschland).

    Die politische Krise als Kommunikationskrise

In den korporatistisch geprägten - also vor allem europäischen - Gesellschaften geraten unter dem Einfluß des digitalen Kapitalismus die tragenden politischen Organisationen, vor allem Parteien und Gewerkschaften, in die Krise. Der Grund liegt in der Veränderung der Werteskala einer immer größeren Zahl von Menschen: Die Einordnungsbereitschaft nimmt ab, das Interesse an einem selbstbestimmten Leben nimmt zu. Die Leute springen von den Tankern in kleine Boote; die sind beweglicher. In dieser Situation hat es keinen Zweck über den Verfall der Arbeitstugenden, die wachsende Bindungslosigkeit, die Zerbröselung der Familie oder das Verschwinden der "Solidarität" in den bekannten, unterschiedlichen Symbolsprachen der Konservativen, der christlichen Kultureliten oder der Arbeiteraristokraten herumzuklagen. Wer althergebrachte Institutionen erhalten will, muß ihre Unbeweglichkeit, Sterilität, Ineffizienz und Kommunikationsunfähigkeit bekämpfen. Institutionen sterben, wenn sie ihre Funktionen nicht mehr gut genug erfüllen, das heißt, wenn sie ihren Mitgliedern zu wenig nutzen und sich zu stark auf die Bindungskraft von Traditionen, Ritualen und Sprachspielen verlassen. Es gibt gute Gründe, eine Gesellschaft von der Illusion zu warnen, ohne feste Strukturen friedlich existieren zu können. Aber eine verkalkte Institution überlebt nicht deshalb, weil die Leute irgendwie einsehen, daß Institutionen ganz allgemein notwendig sind und weil der würdigen, aber nicht mehr recht arbeitsfähigen Struktur keine vollgültige Alternative gegenüber steht. Gelegentlich verhalten sich Gesellschaften wie die Natur: Sie lassen einfach aussterben. Dann verwandeln sich einzelne Biotope radikal. Das ist - zum Beispiel in Deutschland - derzeit bei Parteien und Gewerkschaften im Gang.

Die politischen Parteien leiden mehr und mehr unter dem, was man Erfahrungsverdünnung nennen könnte. Ich beschreibe es am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands; man würde aber nicht zu prinzipiell anderen Ergebnissen kommen, wenn man die CDU, die CSU oder die FDP analysierte. Das Problem liegt in der Abschirmung der Binnenkommunikation der Parteien vom Zeitgespräch der gesamten Gesellschaft. Parteien sind heutzutage einseitig zusammengesetzte, relativ geschlossene und vergleichsweise alte, hierarchisch gestufte Kommunikationszirkel, in die die vielfältigen Bedürfnisse der differenzierten Bürgergesellschaft nur mühsam und langsam vordringen.

Am Beispiel der SPD: sie ist nach dem Regionalprinzip organisiert. Die Meinungsbildung vollzieht sich in Ortsvereinen und über Ortsvereine zu Unterbezirken, Bezirken, Landesverbänden und dem Bundesparteitag. Wer sich in der SPD durchsetzen will, muß sich in den unteren Organisationen bekanntmachen. Das ist in der Regel ein Prozeß, der einige Jahre dauert. An sich ist das Prinzip plausibel und demokratisch: Die Mitgliedschaft will wissen, wer sie vertritt. Deswegen dauert es in der Regel sechs oder sieben Jahre, bis eine oder einer sich das Vertrauen erarbeitet hat, um ein größeres Mandat zu ergattern. Dieses System hat nun zwei Konsequenzen. Es zieht erstens nur Leute an, die sich auf lange Fristen einstellen können und viel Lebensenergie in die Politik investieren wollen; das ist einer der Gründe, warum die politischen Parteien derzeit von unten austrocknen. Es gibt immer weniger junge Leute, die für diese Art von Parteiarbeit gewonnen werden können. Zweitens stellen politische Parteien eine einseitige Auswahl aus der Bevölkerung dar. Die Rituale und Prozeduren der Parteienpolitik begünstigen bestimmte Berufe und soziale Schichten und benachteiligen andere.

Ulrich Pfeiffer hat diese Probleme plastisch dargestellt. Er nennt diejenigen, die in politischen Parteien gute Chancen haben, "Zeitreiche". Der Klassenkampf spielt sich sozusagen nicht mehr zwischen Geldreichen und Geldarmen ab, sondern zwischen Zeitreichen und Zeitarmen. Pfeiffers Analyse lautet folgendermaßen:

 "Man kann kaum etwas gegen (das) System (der politischen Parteien) einwenden. Die Mitgliedschaft ist offen. Man beteiligt sich an einem überschaubaren Ortsverein. Das System geht allerdings stillschweigend von der Annahme aus, daß die einzelnen über ähnliche Zeitbudgets verfügen, um für die Parteiarbeit präsent zu sein. Genau diese Voraussetzung ist heute immer weniger erfüllt. Die Arbeitszeiten oder die zeitlichen Beanspruchungen durch Beruf und Familie haben sich extrem aufgefächert. Immer mehr erwerbstätige Mütter verfügen kaum noch über Freizeit. Immer mehr Freiberufliche, Manager, Spitzenbeamte oder Erwerbstätige in technisch anspruchsvollen Berufen, in denen ein ständiges Lernen Voraussetzung des beruflichen Erfolgs wird, können kaum Zeit und Energie aufbringen, um sich ständig am Binnenleben einer Partei zu beteiligen. Die Gesellschaft läßt sich immer ausgeprägter in zeitreiche und zeitarme Menschen aufteilen. Zwar hat der Tag für jeden 24 Stunden, doch immer mehr können von einer 40-Stunden-Woche nur träumen und sind ständig bis an ihre Kapazitätsgrenze durch berufliche und familiäre Pflichten ausgelastet. Der Zeitfraß der Parteiarbeit kann nur von denen verkraftet werden, die über viel Zeit verfügen."

Die Folge dieses Selektionsprozesses ist klar. Die Zeitreichen, ob Lehrer, Angestellte der Kommunen, Beamte, Rentner etc. bleiben unter sich. Die Erfahrungen von Selbständigen, technischer Intelligenz, Unternehmern, Freiberuflern, erwerbstätigen Müttern etc. bleiben ausgeblendet. Die Bedürfnisse dieser Ausgesperrten (denen man immer entgegenhalten kann, sie könnten sich in den Parteigremien ja engagieren, wenn sie nur wollten) werden in die Kommunikationsprozesse nicht eingespeist. Die Konsequenz ist eben Erfahrungsverdünnung. Das Tempo der Bewältigung neuer Themen wird langsam. Sprache und Themenwahl, Kommunikationsformen und Personalauswahl der Volksparteien genügen der Realität unserer Gesellschaft nicht mehr, weil wichtige Eliten ausgesperrt bleiben. Das, was in der Gesellschaft diskutiert wird, dringt viel zu langsam in die Gremien der Parteien vor.

Die Unfähigkeit der "real existierenden" politischen Parteien, rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren, liegt also in einer Verkapselung in ihrer Binnenkommunikation, die wiederum auf einer allzu engen Selektion ihrer Mitgliedschaft bzw. Aktivbürgerschaft beruht. Die Umdenkleistung moderner politischer Parteien ist zu gering. Zwar verfügen die meisten Parteizentralen über Grundlagenforschung, Zeitgeistforschung und Fremdbeobachtung. Sie können es aber nicht wagen, radikale Konsequenzen zur Debatte zu stellen, weil sie damit in ihrer Binnenkommunikation keinen Erfolg haben. Diese Versäulung wird durch das Wahlsystem verstärkt. Da 50 % der Abgeordneten über feste Listen bestimmt werden, über die nur Parteigremien entscheiden, ist es für viele Kandidaten in der Regel wichtiger, innerparteilichen Pressuregroups zu gefallen als der Mehrheit der Bevölkerung. Das Ergebnis ist eine immer größer werdende Kluft zwischen dem Zeitgespräch in den Parteien und dem Zeitgespräch in der Gesellschaft.

Damit sind wir wieder bei der Theatralisierung von Politik. Da die politischen Eliten dieses Defizit natürlich empfinden, sinnen sie auf Abhilfe. Wenn man durch die demokratischen Prozeduren ("innerparteiliche Demokratie") schon zu weit vom Wähler wegdriftet, muß man ein Medium erfinden, das eine Art telepathischer Beziehung zu diesem unbekannten Wesen, dem Wähler herstellt. Das ist der Spitzenkandidat, der Held, die Verkörperung. Also entwickelt sich zur Korrektur einer Fehlentwicklung eine weitere Fehlentwicklung; man könnte sie - mit einem paradoxen Begriff - demokratischen Cäsarismus nennen. Zur Korrektur der zähen Binnenkommunikation der Zeitreichen erfindet man den Populisten an der Spitze. Dieser Typus, der als Medium engagiert ist, wird häufiger und häufiger. So wird die Verkapselung in Binnenkommunikation kompensiert durch Spitzenfiguren, die mit autoritären Kraftakten die demokratische Meinungsbildung ihrer Partei konterkarieren. Wie dabei eine sachgerechte Reform der Rentenversicherung oder der Krankenversicherung herauskommen soll, ist eine offene Frage.

Die dritte Kommunikationsstörung liegt in der Kommunikationsverweigerung, die die politischen Parteien in Deutschland mehr und mehr betreiben. Die deutsche politische Kultur ist tantenhaft. Sie ist von zahllosen Tabus bestimmt, über die man nicht diskutieren darf. Hintergrund dieser "Tantenhaftigkeit" sind falsche Ideen über die Führbarkeit einer Gesellschaft durch Meinungsmanipulation. Man kann das die deutsche "Publizistenideologie" nennen. Das ist der eingewurzelte Wunsch vieler Journalisten, in die Politikerrolle zu schlüpfen. Viele Journalisten stellen nicht das zur Debatte, was die Gesellschaft bewegt, sondern das, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach bewegen sollte. Ausdruck der Publizistenideologie ist die als Ethos kostümierte Auffassung, man dürfe doch X oder Y kein "Podium bieten". Wem ich ein Podium biete, sagen viele

Journalisten, entscheide ich selbst. Die Folge ist eine immer größer werdende Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Journalisten sind im System einer demokratischen Verfassung, z. B. des Grundgesetzes, Vermittler, nicht Strategen, die entscheiden, wer "aufgewertet" wird und wer nicht. Die Tantenhaftigkeit der deutschen politischen Kultur führt aber dazu, daß bewegende Debatten in der Politik kaum mehr stattfinden. Die Extrempositionen werden ausgegrenzt, die großen Protagonisten (Bundeskanzler Kohl als Beispiel) stellen sich keinen kontroversen Debatten, also bleiben impressen von wenig profilierten und wenig unterschiedenen Repräsentanten der sogenannten "politischen Mitte". Das Ergebnis: das deutsche Volk interessiert sich weit mehr für Thomas Gottschalk, Boris Becker und das Nabtal-Duo als für politische Debatten.

    Die Deckstühle auf der Titanic

DieProbleme, die die Gewerkschaftsapparate haben, sind denen der politischen Parteien nicht unähnlich. Viele verweigern sich der "Job-Shift", die der digitale Kapitalismus mit sich bringt. Obgleich die Berufe mit weißen Kragen in Deutschland längst über 70 Prozent der Beschäftigung ausmachen, organisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund weniger als 25 Prozent Angestellte. Die gewerkschaftliche Mitgliederstruktur entspricht also der Arbeitswelt der 50er Jahre. Das mittlere Management vieler Großfirmen wird ausgekämmt, die Zahl der "Selbstangestellten" wächst. In den Gewerkschaftsapparaten aber liegt die Macht oft genug bei einer "Lähmschicht", die "Management by Potemkin" betreibt. Immer mehr Funktionäre sind für Arbeitergruppen zuständig, die immer kleiner werden. Und während die moderne Kommunikationstechnik netzwerkartige Teams nahelegt, die gemeinsam an Projekten arbeiten und sich nach Erledigung ihres Auftrags auflösen und neu zusammensetzen, herrscht in Gewerkschaftsapparaten oft das "feudalistische Modell", bei dem Entscheidungs- und Fachkompetenz auseinanderfallen. Die Lernfähigkeit einer Organisation hängt vom freien Fluß der Information und der Fehlertoleranz ab. Im feudalistischen Modell aber entscheiden "die Abteilungs- und Regionalleiter - die Barone - weitgehend selbstherrlich, welche Informationen in ihrem Bereich gesammelt, wie sie interpretiert und in welchem Format sie dem ¿König' überbracht werden" (Ulrich Klotz/IG Metall). Die Folge ist of eine grölbackige Wagenburg-Mentalität. Ungeschminkte Analyse wird zur Nestbeschmutzung. Man nimmt die neuartigen Bedürfnisse neuartiger Kundengruppen gar nicht mehr wahr. Stallgeruch wird wichtiger als Sachkompetenz. Das Ergebnis: Man kämpft um die Deckstühle auf der Titanic.

    Die Beweglichkeit der Tanker

Sind die Tanker modernisierbar oder müssen sie einfach ins Schiffsmuseum? Darauf gibt es keine generelle Antwort. Inzwischen ist der Streit zwischen Traditionalisten und Modernisierern so laut, daß man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Es gibt technokratische Vorschläge zur Reform der alten Organisationen. So stellt Ulrich Pfeiffer "Konzeptionsvereine" zur Debatte, die die Binnenkommunikation der Parteien aufbrechen sollen. Sie sollen den zeitarmen Protagonisten des Zweidrittelblocks Möglichkeiten der Mitwirkung bieten. Die Kommunikation soll also nicht mehr im Hinterzimmer "Zum Grünen Baum" stattfinden, sondern in einer mailbox. Chat-Groups im Internet sollen vergleichbare Rechte bekommen wie Aktivisten-Zirkel, die sich die Donnerstagabende freinehmen können. Ob die Aktivistenzirkel diese Verfassungsänderungen des Parteiensystems hinnehmen, ist allerdings eine vollständig offene Frage.

Radikaler sind Vorschläge zur Veränderung des gesamten politischen Systems. Wenn die politischen Parteien selbst nicht reformierbar sind, weil die bisherigen Inhaber der innerparteilichen Macht an ihrer eigenen Entmachtung natürlich nicht mitwirken wollen, bliebe die Möglichkeit einer sanften Entmachtung der Parteien selbst. Debattiert werden Veränderungen des politischen Systems sowohl an der Spitze als auch an der Basis, so die Verstärkung der Kompetenzen des Präsidenten und seine Volkswahl wie die Einführung des Referendums (das in Deutschland zwar in Kommunen und Ländern, nicht aber auf der nationalen Ebene möglich ist). Wenn die Parteien strukturelle Reformen nicht mehr zustandebringen - so lautet der Grundgedanke dieser Vorschläge - muß man der Gesellschaft mehr Möglichkeiten zur Intervention in das politische Geschäft geben. Auch diese Vorstellungen sind allerdings schwer zu verwirklichen. Die meisten europäischen Verfassungen sind mit ihren Fundamenten tief in die Erde eingelassen und kaum umbaubar, es sei denn, es käme irgendein Sprengmeister daher.

Bleibt also alles beim Alten? Das kann man ausschließen. Wenn der Sozialstaat ausrinnt, weil die Kraft zu seiner Reform fehlt; wenn die Renten unsicher werden, weil die Rentenformel nicht stimmt; wenn die Besteuerung für bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu drückend wird, werden sich Veränderungen Bahn brechen. Die zu Attentismus, Durchwurstelei und symbolischer Politik verurteilten oder jedenfalls angehaltenen politischen Eliten verlieren Stück für Stück ihre Reputation. Genau dieser Prozeß ist in einer Reihe von europäischen Gesellschaften im Gang. Noch ist nicht erkennbar, wie sich dieser Konflikt lösen wird. Im digitalen Kapitalismus werden neue politische Organisationsformen nötig. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß in den Übergangsphasen ernsthafte Krisen auftreten: Rechtspopulistische Revolten, autoritäre Zwischenspiele, kleinere oder größere Warnkatastrophen.

    Mediendemokratie

In welchen Zustand gerät also das politische System der westlichen Demokratie im digitalen Kapitalismus? Wie lebt es sich unter den Bedingungen von "Silicon Politics"?

Die gängige Kritik kratzt nur an der Oberfläche des Problems herum. Die Parteiendemokratie verändere sich immer mehr zu einer Mediendemokratie, die Talkshow ersetze den Ortsverein, wer drei Stunden täglich vor dem Fernsehgerät sitze, dem fehle die Zeit, sich an politischen Prozessen persönlich zu beteiligen. Die spitzen Gegenfragen lauten: Ist es nicht zwingend (und im Sinne der Mehrheit), daß manche der strukturkonservativen Glaubenssätze der einseitig zusammengesetzten politischen Aktivisten über die Medien korrigiert werden? Bietet manche (nicht jede) Talkshow nicht kontroversere und inhaltsreichere Kommunikation als die durchschnittliche Parteiversammlung? Kann man fernsehend nicht oft genug mehr lernen als im Versammlungsraum der Altentagesstätte der Arbeiterwohlfahrt oder im Kolpinghaus?

In der Tat haben sich die audivisuellen Medien insbesondere im Zug der Kommerzialisierung des Fernsehsystems eine unschlagbar starke Stellung im Meinungsbildungsprozeß erobert. Mit ihnen sind ihre Bedienungsmannschaften stärker geworden; die Anchor-Men können über ihre Nachrichtenpolitik zwar keineswegs frei entscheiden, aber - als täglich ankommende Boten, Gesprächspartner der Macht und mimische Kommentatoren - haben sie spürbaren Einfluß. Die Demagogie liegt als Möglichkeit bereit. Die neue Punkt-zu-Punkt-Struktur der Computerwelt wird diesen Einfluß bei einem wichtigen Segment der beschleunigten Gesellschaften, bei den Symbolanalytikern, abschwächen, aber nicht aushebeln. Insofern bleibt es dabei, daß Politik als Theater inszeniert werden wird und das Publikum gut daran tut, sich eine gemäßigt zynische, jedenfalls coole Rezensentenmentalität anzutrainieren. Das wird natürlich nur einem Teil dieses Publikums gelingen. Der ist allerdings größer als die Kulturkritiker vermuten. Man nennt die Fertigkeiten dieser starken Minderheit neuerdings "Medienkompetenz".

Die eigentlichen Gefahren von "Silicon Politics" liegen in folgenden, aufeinander aufbauenen Entwicklungszügen:

    Der Cafeteria-Staat des digitalen Kapitalismus ist machtloser als der europäische Sozialstaat einiger Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, also moderationsunfähiger, eingriffsschwächer.
    Das führt zu einer Verschlechterung des politischen Personals. Die wirtschaftlichen Eliten haben weit mehr zu entscheiden als die politischen. Also drängen die stärksten Figuren in die Wirtschaft, nicht in die Politik, in der immer mehr wirtschaftlich abhängige Aufsteiger aus den beiden Mittelschichten das Bild bestimmen.
    Die Konsequenz ist eine Vereinseitigung der politischen Organisationen. Wichtige Schlüsselmilieus der beschleunigten Gesellschaft sind dort nicht mehr repräsentiert. Sie versuchen, ihre Interessen auf anderem Wege durchzusetzen und sind dabei ziemlich erfolgreich.
    So wächst in den jungen Generationen das Desinteresse an "Politik". Die Muster der höchst kompliziert über viele Ebenen verteilten Entscheidungsprozesse werden undurchschaubar. Die Idee eines nicht professionellen bürgerschaftlichen Engagements erscheint sehr vielen jungen Leuten romantisch, unpraktisch und zeitfressend. Man will mit seinem Leben etwas Aufregenderes anfangen.

Es ist leichtfertig und auf die dumme Weise zynisch, aus diesen Entwicklungen zu schließen, Politik sei nur noch Simulation, Theater und Event-Management. Auch an der Jahrtausendwende und in einer vom digitalen Kapitalismus schon stark imprägnierten Gesellschaft ist zielorientiertes, um Legitimierung bemühtes, auf den Rechtszustand der jeweiligen Gesellschaft gerichtetes Handeln möglich. Die politischen Klassen sind schwächer geworden, aber weder machtlos noch überflüssig. Sie können Menschen immer noch zusammenbringen oder auseinanderdividieren. Das vielzitierte "starke und langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" (Max Weber) ist immer noch ein wichtiges Kunsthandwerk. Allerdings sind die Bretter dicker geworden, die Bohrer stumpfer.