Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann

Die Luft der Freiheit weht

Kurzfassung Im Briefkopf des Präsidenten der Stanford-Universität in Kalifornien stehen die deutschen Worte: "Die Luft der Freiheit weht". Es ist ein Zitat des Reformators Ulrich von Hutten (1488-1523). Der in Deutschland geborene Präsident der Universität von Stanford, Gerhard Casper, hat in einem Vortrag vor der Stanford Historical Society (5.Oktober 1995) beschrieben, wie diese deutschen Worte von der Gründung der Universität Stanford am Ende des 19. Jahrhunderts an zu einem informellen Motto der Universität wurden. Im Zweiten Weltkrieg kamen sie außer Gebrauch, aber Gerhard Caspar nutzte den Freiraum, den ein Universitätspräsident hat, und setzte die Worte: "Die Luft der Freiheit weht" in den Kopf des offiziellen Briefpapiers des Präsidenten. Da stehen sie jetzt.

Ich stelle diesen Bericht an den Anfang, weil ich mein Referat dem Thema Freiheit widmen will. Mir erscheint heute nichts dringender, als über Freiheit nachzudenken, einzudringen in ein volles Verständnis von Freiheit, die Bedeutung von Freiheit für die Erziehung für das 21. Jahrhundert zu erfassen. Oder noch krasser gesagt: Nichts erscheint mir wichtiger, damit die heutige junge Generation ein sinnvolles, glücklicheres Leben führen kann.

Warum das so ist, das hat der Pädagoge Hartmut v. Hentig mitten im ideologischen Getümmel der Kulturrevolution der 70er Jahre gesagt, vom Zeitgeist wie unberührt, ich komme darauf zurück.

Und der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi überreicht uns geradezu den zentralen Schlüssel zum Begreifen, warum wir ohne Wenn und Aber die Freiheit als die wichtigste Quelle eines gut gelingenden Lebens betrachten müssen. Der eine wie der andere helfen uns zu verstehen, daß nichts wichtiger ist, als daß die Luft der Freiheit weht. Das will ich später noch näher erklären.

Aber vorweg will ich zeigen, wie ahnungslos unsere deutsche diskutierende Gegenwart mit der Idee der Freiheit umgeht.

Seit 1990, seit der Wiedervereinigung sinkt in den Allensbacher Umfragen in West- und Ostdeutschland die Wertschätzung der Freiheit ab. Die Frage dazu wird zugespitzt gestellt - übrigens schon seit Anfang der 70er Jahre: "Hier unterhalten sich zwei, was letzten Endes wohl wichtiger ist, Freiheit oder möglichst große Gleichheit - wenn Sie bitte einmal lesen. Welcher von beiden sagt eher das, was auch Sie denken?" Der obere sagt: "Ich finde Freiheit und möglichst große Gleichheit eigentlich beide gleich wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müßte, wäre mir die persönliche Freiheit am wichtigsten, daß also jeder in Freiheit leben und sich ungehindert entfalten kann." Der untere sagt: "Sicher sind Freiheit und möglichst große Gleichheit gleich wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müßte, fände ich eine möglichst große Gleichheit am wichtigsten, daß also niemand benachteiligt ist und die sozialen Unterschiede nicht so groß sind."

Die Freiheit habe den Vorrang, sagten von den Ostdeutschen 1990 46 Prozent, 1997 30 Prozent; in Westdeutschland 1990 64 Prozent, 1997 57 Prozent.

Warum ist das so? Die übliche Antwort lautet: "Die Freiheit ist jetzt da, was man hat, das schätzt man nicht mehr."

Medien-Inhaltsanalysen, die der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger von der Universität Mainz durchgeführt hat, zeigen auch, wie die Medien diese Annahme in journalistische Praxis umgesetzt haben. Kepplinger zeigt, daß in den tonangebenden Medien 1989 der Wert der Freiheit ein zentrales Motiv war. Aber von 1990 an verschwand das Thema aus den Medien, und es ist so bis heute geblieben. Freiheit ist kein Thema.

"Was man hat, das schätzt man nicht mehr. Darum wird das Thema Freiheit uninteressant": ein kardinaler Irrtum. Ich habe schon oft argumentiert: Wenn das so wäre, dann hätten ja meine Studenten an der Universität von Chicago ganz besonders gleichgültig gegenüber dem Wert der Freiheit sein müssen. Seit mehr als zweihundert Jahren schützt die amerikanische Verfassung die Freiheit als obersten Wert der Demokratie. Aber das Gegenteil trifft zu: die Begeisterung der Chicagoer Studenten für die Freiheit war überhaupt nicht zu übertreffen.

Inzwischen vermute ich sogar, daß Völker die Freiheit um so mehr lieben, je länger sie die Freiheit besitzen.

Woher die Mißverständnisse?

Da ist zuerst einmal die Doppeldeutigkeit des Begriffs. Da ist die sozialistische Idee der Freiheit, die Freiheit von allen Übeln dieser Welt, Freiheit von Armut, von Not im Alter, Freiheit von Arbeitslosigkeit. Für alles dies sorgt der Staat, die Menschen können sich auf seine Fürsorge verlassen, sie sind geborgen.

Ganz entgegengesetzt das Freiheitsverständnis der parlamentarischen Demokratie: Die Freiheit wird nicht vom Staat gewährt, sondern der einzelne ist geschützt gegen den Zugriff des Staates in seinem Individualbereich, er besitzt in weiten Bereichen, im Recht verankert, Entscheidungsfreiheit und damit Verantwortung für sich selbst und den Kreis von Menschen, dem er sich zugehörig fühlt.

Es ist diese Freiheit, von der Hartmut v. Hentig in einem Aufsatz der 70er Jahre zum Thema "Verteidigung der Bildung" spricht. Er sagt: "Bildung (...) hat zu sorgen für ..." und dann nennt er 5unter zehn Punkten als siebten: "Freude an schönen, vergnüglichen, gescheiten Dingen, am Zusehen und Zuhören, aber auch am Schaffen, Mitteilen, Entdecken, Entscheiden, Verantworten - weil ich hierin meine Freiheit erfahre und in der Freiheit den höchsten Wert, den mein Handeln für andere haben kann ..." Er spricht dann von der Kreativität, die aus dieser Freiheit erwächst und sagt: "Nebenprodukte der Kreativität sind Freude, Selbsterkenntnis und Sachkenntnis, Selbstbestätigung, ja so etwas wie Glück."

Alles dies ist demjenigen, der in einem Land mit freiheitlicher Verfassung lebt, wie zur zweiten Natur geworden.

Aber mit dieser Doppeldeutigkeit von Freiheit im sozialistischen und im parlamentarisch-demokratischen Sinn sind die Schwierigkeiten nicht erschöpfend beschrieben. Da ist die verführerische Parole der französischen Revolution: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Alles spricht dafür, daß man Freiheit und Gleichheit nicht gegeneinander abzuwägen braucht wie in unserer Allensbacher Frage, sondern daß diese beiden großen Werte miteinander verschwistert sind.

Aber schon wenige Jahrzehnte nach der Geburt der Parole der französischen Revolution sagte Goethe: "Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind entweder Phantasten oder Scharlatane".

Mehr als ein Jahrhundert später sagt Max Horkheimer in einem Vortrag Anfang der 70er Jahre: "Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit, je mehr Gleichheit, desto weniger Freiheit". Das heißt: Im Ernstfall muß der einzelne, muß die Gesellschaft entscheiden, welcher dieser beiden Werte ihr der wichtigere ist.

Und hier, für diese Entscheidung reicht uns Csikszentmihailyi einen Schlüssel.

Jahrzehnte hindurch hat er mit Ausdauer und Geduld, mit Erfindungsreichtum für neue Methoden - Eigenschaften, die man sonst vor allem von experimentellen Naturwissenschaftlern kennt -erforscht, welche Lebensweise Menschen glücklich oder unglücklich macht. Die Ergebnisse seiner Forschungen führen zurück zu einem Ausspruch von Thomas von Aquin: "Trägheit macht traurig".

Eine sehr große Studie widmete er den Auswirkungen des Fernsehens. Wahlloses Fernsehen, langes Fernsehen, vielleicht schon durchschnittlich mehr als eine Stunde Fernsehen am Tag führt zu Trägheit und damit direkt zu Traurigkeit. Irgendwo sagt er, viele Menschen stellen nur darum das Fernsehen nicht ab, weil sie aus Erfahrung wissen, daß sie danach noch trauriger sein werden. Heute, in seinem Vortrag, hat er uns belehrt:

"We should realize that the success of education is not measured by what scores youth gets on tests in school, but by how they use free time. Is the young person spending free time only in passive consumer and leisure activities? Just watching TV or hanging out in bars or racing motorcycles? Or ist he or she involved in constructive activities that lead to the acquisition of skills, of discipline, of selvesteem based on real accomplishments?"

Er spricht davon, daß das tiefste Glück von jungen Menschen, von Menschen allgemein bezogen wird durch Tätigkeiten, bei denen Schwierigkeiten zu überwinden sind, Herausforderungen, Tätigkeiten - egal ob am Arbeitsplatz oder in der Freizeit - , bei denen die persönlichen Kräfte wachsen.

Hier begegnen sich die beiden Redner des heutigen Tages. Hartmut von Hentig sagt in seinem schon zitierten Aufsatz von 1977: "Es könnte sein, daß (...) Glücksgefühl mehr mit der Existenz strenger Aufgaben und Ordnungen zu tun hat - von denen man sich entweder zeitweise befreit oder zu deren Erfüllung Spielraum, Freiheit, Irrtum, Risiko notwendig sind."

Freiheit scheint aufs engste verknüpft mit Glück. Das zeigen Allensbacher Forschungsergebnisse jetzt schon seit Jahrzehnten, Grund genug, über Freiheit nachzudenken, Freiheit zu verstehen, eine Lebensform zu wählen, bei der man sich der Freiheit aussetzt, die Last der Freiheit auf sich nimmt, dazu Entscheidung und Verantwortung.