Dr. Bernhard Bueb

Lob der Disziplin? Erziehung zwischen Schule und Familie


1.  Erziehung ist immer Werteerziehung
 
„Erziehung ist Liebe und Vorbild, sonst nichts“, so hat  Friedrich Fröbel, der Gründer der Kindergärten, sie beschrieben. Erziehung bildet das Herzstück der Familie, sie charakterisiert die Tätigkeit von Eltern, die durch Alter und Erfahrung legitimiert sind, unerfahrene Kinder und Jugendliche auf den Weg des Erwachsenwerdens zu führen.
Erziehung braucht Eltern, die selber erwachsen sind, die also bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und Kinder entsprechend ihrem Menschenbild zu führen. Der Auftrag lautet, Kinder so in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken, dass sie selbstständig ihren Weg finden können und vor allem lernen, ja zu sich zu sagen.
 
Erziehung ist immer Werteerziehung. Werteerziehung ist daher ein weißer Schimmel.  Jedermann erkennt die fundamentalen Werte unserer Kultur an: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, Nächstenliebe, Gemeinwohl, Freiheit, Gleichheit, Frieden usw.

Erziehung hat den Auftrag,  junge Menschen zu befähigen, die Werte in Tugenden umzusetzen, also den Wert Wahrheit in die Tugend Ehrlichkeit, den Wert der Gleichheit in die Tugend der Toleranz, den Wert der Gerechtigkeit in die Tugend der Gerechtigkeit usw. Die Umsetzung ist also das pädagogische Problem. Ihr Gelingen hängt an der Fähigkeit zur Selbstdisziplin.

Kinder und Jugendliche müssen vor allem darauf vorbereitet werden, Wertekonflikte meistern zu können. Der häufigste Wertekonflikt ist  heute zu bestehen zwischen dem Wert Freiheit (Selbstverwirklichung, Individualität) und dem Wert Gemeinwohl/Nächstenliebe, dem die Tugend des Gemeinsinns entspricht.
 

2. Disziplin und Selbstdisziplin
 
Erziehung braucht Disziplin, vor allem Selbstdisziplin der Eltern. „Liebe und Vorbild“ – was wären sie ohne Selbstdisziplin? Wer liebt, neigt dazu, den anderen zu vereinnahmen, ganz für sich haben zu wollen, sie führt zu Eifersucht, wenn sie nicht durch Selbstdisziplin gezügelt wird. Wer seine Kinder liebt, muss ihnen Disziplin und Verzicht abfordern, um sie nicht zu verwöhnen. Vorbild sein heißt, dass die Taten den Worten entsprechen, Verlässlichkeit und Authentizität sind die Erkennungszeichen und das setzt Selbstdisziplin voraus.
 
Disziplin heißt Unterordnung. Sie konkretisiert sich in den sogenannten Sekundärtugenden, also Ordnungssinn, Fleiß, Pünktlichkeit, Sorgfalt, Anstrengungsbereitschaft und vor allem Verzichten-Können. Sie bildet eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung jeder kulturellen Leistung.

Disziplin und Sekundärtugenden sind keine Werte, sie sind Mittel und erhalten ihren Wert durch den Zweck, dem sie dienen. Die Aufführung einer Sinfonie braucht Disziplin und dann ist Disziplin eine gute Sache. Aber auch eine Verbrecherbande braucht Disziplin, um ihre Verbrechen zu organisieren und dann wird sie zum Instrument des Bösen. Oskar Lafontaine hat einmal den unseligen Satz geäußert, die Sekundärtugenden seien die Tugenden der KZ - Wächter gewesen. Helmut Schmidt hat darauf geantwortet, sie seien aber auch die Tugenden der Befreier der KZ´s gewesen. Anschaulicher kann man nicht zeigen, dass Disziplin und Sekundärtugenden neutrale Mittel und keine Werte sind. Bedrohlich wirkt Disziplin, wenn sie zum Selbstzweck und damit zu einem Wert erhoben wird.
 
Disziplin beginnt in der Regel bei kleinen Kindern mit der Gewöhnung an sich wiederholende Rituale, an bestimmte Zeiteinteilungen, an Formen des Umgangs und vor allem mit der Einübung von Verzicht. Ziel von Erziehung sollte immer sein, Kindern zu der Einsicht zu verhelfen, dass Disziplin ein nützliches Mittel ist, selbstgesetzte Ziele zu erreichen, und sie zu befähigen, über dieses Mittel souverän zu verfügen. Disziplin aus Einsicht zu üben, um ein selbstgesetztes Ziel zu erreichen, heißt Selbstdisziplin.
Disziplin und Selbstdisziplin müssen also das Aufwachsen in der Familie begleiten. Kinder und Jugendliche so zu führen, dass sie lernen, in allen Lebenslagen Disziplin üben zu können, muss  zu den Zielen von Erziehung und Bildung gehören. Selbstdisziplin ist die Voraussetzung für innere und äußere Unabhängigkeit.
 
Askese, Arbeit und rationale Lebensführung – diese Trias von Tugenden hat Max Weber als das Fundament unserer Wirtschaft und Gesellschaft angesehen. Wer nicht verzichten gelernt hat, wem Arbeit als Tugend nicht zur zweiten Natur wurde und wer sein Leben nicht nach vernünftigen Kriterien ordnen kann, wird keine Chance in unserer Gesellschaft haben.
 
3. Das Glück der Anstrengung
 
Wie kann man Kindern und Jugendlichen den Nutzen von Disziplin nahe bringen? Damit das gelingt, muss man ihnen einen Begriff vom Glück der Anstrengung nahe bringen.
 
Viele Menschen verstehen unter Glück eine Animation von außen: Vor dem Fernsehen zu sitzen, Alkohol zu trinken, zu rauchen oder  Drogen zu nehmen. Manche glauben, dass erotische Glück automatisch der Begegnung schöner Körper resultiere oder dass Reichtum Glück bringt.
 
Glück in unserer Kultur wird aber traditionell anders verstanden. Es ist die Folge einer Anstrengung: Einen Berg bestiegen zu haben, löst Glücksgefühle aus, oder vor einem Publikum ein Musikstück exzellent vorgetragen zu haben. Das Glück der Anstrengung ist unendlich wiederholbar , ohne dass es schal wird und es wird einem weniger geneidet als das Glück, das einem in den Schoß fällt.
 
Wer dieses Glück der Anstrengung in frühen Jahren nicht erfährt, wird auch den Nutzen von Disziplin nicht erfahren.
 
Das Glück der Anstrengung fällt nicht vom Himmel, es folgt guter Erziehung. Vorbild und  Liebe der Eltern sind notwendige Bedingungen, damit ein Kind sich anstrengen will und solche Anstrengung als beglückend erfährt. Vorbild und Liebe müssen jedoch  tätig werden: Vertrauen in ein Kind lässt dessen Selbstvertauen wachsen. Eltern müssen ihren Kindern aber auch etwas zutrauen, indem sie ihnen etwas abfordern. Kindern und Jugendlichen anspruchsvolle Aufgaben zu stellen, damit sie daran wachsen können, ist die beste Art, Kindern Zutrauen zu signalisieren.
 
Der Königsweg ist das Spiel:
 
Das Spiel weckt die schöpferischen Kräfte, es schärft die Sinne und den Verstand, es erprobt den Charakter und erzieht zur Verantwortung, es lehrt einen, mit Sieg und Niederlage fertig zu werden, es fordert den tiefsten Ernst und schenkt die seligste Unbeschwertheit, es fordert höchste Disziplin, es weckt den Sinn für Ordnung, es macht mit der Macht des Zufalls vertraut, es bereitet Stunden der Selbstvergessenheit und macht frei, weil es keinem äußeren Zweck dient; nirgends erfährt ein Kind unmittelbarer die Wechselwirkungen von Glück in seiner doppelten Bedeutung, Glück haben und glücklich sein.

Das Spielen schwindet zunehmend aus den Familien. In Fortbildungen sollten Eltern die Kultur des Spielens wieder lernen.
 
Ebenso sollten Eltern durch Fortbildung erfahren, was Erziehung heißt, dass nämlich außer Vorbild und Liebe sich „handwerklich“ einiges lernen lässt.
 Erziehung sollte den Regeln guter Führung folgen:
 
Wer führt, muss das Selbstwertgefühl von Menschen, die ihm anvertraut sind, stärken wollen; er muss Ziele mit ihnen vereinbaren, er muss ihnen einen Spiegel vorhalten, damit sie sich selbst einschätzen können, ob sie die vereinbarten Ziele erreichen, er muss also kontrollieren; er muss daraufhin loben und belohnen oder kritisieren und Hilfe bieten, damit der  Geführte sein Verhalten ändern kann. Verweigert er Hilfe oder weigert er sich, sein Verhalten zu ändern, muss er auch bereit sein zu strafen.
 
Erziehung ist in der Struktur nichts anderes als Führung. Anstrengend bei Führung und Erziehung ist vor allem die Kontrolle und, wenn die Ziele nicht erreicht sind, das Bestehen auf Änderung des Verhaltens. Konsequenz ist eine der Forderungen an die Erziehenden.  Kontrolle und die konsequente Forderung, die vereinbarten Ziele zu verfolgen, strapaziert die Beziehungen, führt zu Konflikten und verlangt vom Erziehenden eine erwachsene Haltung. Er muss zu seiner Verantwortung stehen. Viele Eltern und Lehrer scheuen sich, Kindern und Jugendlichen fordernde Aufgaben zu stellen und ihnen die notwendige Disziplin abzuverlangen, weil sie fürchten, die Liebe der jungen Menschen zu verlieren.
 
Es ist daher ratsam, Eltern zu stärken und zu ermutigen, ihre Kinder aktiv zu erziehen, Konflikte nicht zu scheuen, kurz: Die Erwachsenen sollten erwachsen werden, d.h. für sich und andere Verantwortung übernehmen.
 
4. Der Segen von Gemeinschaften
 
Die Erziehung in der Familie genügt nicht. Junge Menschen brauchen zum Aufwachsen Gemeinschaften, in denen sie das Glück der Anstrengung und den Nutzen von Disziplin erfahren.

Erziehung in der Gemeinschaft ist die Fortsetzung und Ergänzung einer gelungenen Erziehung in der Familie oder, wenn diese Erziehung nicht gelungen ist, wird sie zum Ersatz.
 
Unter zwei Defiziten leiden Kinder und Jugendliche heute vor allem:

Ihnen fehlen gestaltete Gemeinschaften, in denen sie lernen, Werte in Tugenden umzusetzen: ehrlich, tolerant, gerecht, friedfertig zu sein;  Eifersucht, Neid und Geiz überwinden zu lernen; Gemeinsinn zu entwickeln und verantwortlich handeln zu lernen.

Junge Menschen finden immer weniger Gemeinschaften vor: Die Straßengemeinschaft ist praktisch verschwunden, die kirchlichen Gemeinschaften ebenso, das Vereinswesen nimmt ab, Einrichtungen wie die Pfadfinder finden zu wenig Akzeptanz, Großfamilien gibt es immer seltener.
 
Das zweite Defizit: Junge Menschen leiden unter einem Mangel an Zuwendung und Zeit von Erwachsenen. Eltern nehmen sich oft zu wenig Zeit, vor allem, wenn beide berufstätig sind; Lehrer finden in unseren Halbtagsschulen kaum Zeit, um sich Schülern außerhalb des Unterrichts zuzuwenden.
 
5. Die Ganztagsschule
 
Um diesen Defiziten zu begegnen, brauchen wir die Ganztagsschule. Ganztagsschule darf aber nicht heißen, den ganzen Tag Schule, sondern vormittags Unterricht, dann gemeinsames Mittagessen und der Nachmittag gehört den Hausaufgaben und dem Spiel: Sport, Theater, Musik, schöpferische Medienarbeit, naturwissenschaftliches Experimentieren, Schülermitverantwortung als spielerische Einübung in Politik, Unternehmungen in der Natur, handwerkliches Arbeiten.
 
Am Nachmittag würden Gemeinschaften entstehen, deren Zusammensetzung, Regeln und Dynamik durch eine gewählte Tätigkeit bestimmt wird: Fußball, Theater, Musik etc. Die Klassengemeinschaft des Vormittags würde variiert.
 
Dieselben Erwachsenen, die vormittags unterrichten, die Lehrer, wenden sich am Nachmittag in anderer Form den jungen Menschen zu. Sie werden Partner im Spiel, sie beraten, helfen, Konflikte zu lösen, sie haben Zeit für Gespräche.
 
Eine neue Dimension der Lehrer-Schüler-Beziehung würde entstehen. Lehrer würden z.B. Kinder aus bildungsfernen Schichten nicht nur als Schulversager im Unterricht erleben, sondern als begabte Fußballspieler, Schauspieler, Handwerker, Organisatoren, geschickt im Aufbau naturwissenschaftlicher Experimente oder beim Betreiben schulinterner Radiostationen. Kein Kind geht verloren, an das ein Lehrer glaubt. Um aber an ein Kind glauben zu können, muss er es in seine Stärken erleben. Dazu muss er es außerhalb des Unterrichts kennen lernen.
 
Würde eine so verstandene Ganztagsschule eingeführt, gäbe es nur Gewinner:

Alle Kinder, besonders Einzelkinder, Kinder aus bildungsfernen Schichten, Migrantenkinder, Kinder aus behüteten Verhältnissen, dann die berufstätigen Frauen, die Alleinerziehenden und die Lehrer.
 
Bedingung: Ganztagsschulen müssten flächendeckend und verpflichtend eingeführt werden. Denn Kinder aus bildungsfernen Schichten, Migrantenkinder und Kinder aus behüteten Verhältnissen würden die Ganztagsschule sonst nicht besuchen.
 
Gemeinsame Unternehmungen in der Gemeinschaft unter der Führung von Erwachsenen würden Kindern und Jugendlichen das Glück der Anstrengung und den Nutzen von Disziplin erfahren lassen.

Außerdem wäre es die Chance, dem Spielen beim Aufwachsen eine Bresche zu schlagen.

Es wäre weiterhin die erfolgversprechendste Maßnahme, um Kinder und Jugendliche vor dem Konsum der Medien, vor allem Fernsehen, Computer und Internet zu schützen.
 
Noch ein Wort zu Kindern aus behüteten Verhältnissen, deren Eltern am Nachmittag die Erziehung selbst übernehmen wollen.

Wie verläuft ein Nachmittag in behüteten Verhältnissen? Nehmen wir an, eine intakte Familie hat vier Kinder. Die Kinder kommen um 13 Uhr nachhause. Die Eltern wollen gern, dass die Kinder ihnen lauschen, wenn sie über die großen Themen der Menschheit reden. Aber nur in Lehrerfamilien sind beide Eltern mittags zuhause. Normale Kinder haben in der Regel Fluchtgedanken beim Mittagessen. Danach fährt die Mutter die eine Tochter in den Reitstall, die andere zur Geigenstunde und mit den beiden Jungs beginnt der Kampf um die Hausaufgaben, unterstützt durch teure Nachhilfelehrer. Um 17 Uhr muss die Mutter erst einmal einen Wermut trinken, um sich von dem Nachmittag zu erholen.
 
Würden die Kinder die Ganztagsschule besuchen, würden sie die Hausaufgaben in der Schule machen, Sport treiben, Theater spielen und von der Schule aus ihre Geigen – oder Reitstunde besuchen. Nach 17 Uhr, wenn auch der berufstätige Elternteil zurückkommt, begänne das Familienleben.
 
6. Forderung an die Bildungspolitik
 
Die Ganztagsschule kann nur gelingen, wenn die Person des Lehrers, sein Selbstverständnis, seine Arbeitsbedingungen, seine Aus - und Fortbildung und die Anerkennung seiner Arbeit in den Mittelpunkt des bildungspolitischen Interesses gerückt wird.

Es nützt nichts, nur Strukturen zu ändern, z.B. die Ganztagsschule einzuführen, ohne dass Lehrer ihr Selbstverständnis ändern, d.h. vor allem die Bereitschaft  entwickeln, auch als Erzieher tätig zu werden.
 
Lehrer müssen Arbeitsplätze an Schulen erhalten, sie müssen von Unterricht entlastet werden, wenn sie nachmittags Sport mit Schülern treiben oder naturwissenschaftliche Experimente vorbereiten. Die Schulen müssen so eingerichtet werden, dass Lehrer und Schüler auch nachmittags gern an der Schule bleiben.
Lehrer müssen Fortbildungen besuchen können, die nicht nur akademisch-fachlich sind: Also Verhaltenstraining, Coaching sollten zur Fortbildung gehören.

Die Ausbildung sollte durch Praxisphasen ergänzt werden, in denen werdende Lehrer prüfen können, ob sie sich für diesen Beruf begeistern können.

Außerdem müssten Lehrer regelmäßig Rückmeldungen erhalten über die Qualität ihres Unterrichts. Das setzt eine Führungskultur an Schulen voraus, die geschaffen werden müsste.

Jährlich sollte jeder Schüler einen Fragebogen ausfüllen und unterschreiben, der die Qualität des Unterrichts seiner  Lehrer abfragt. Dieser Fragebogen würde von einer neutralen Instanz ausgewertet und in anomymisierter Form dem Schulleiter übergeben.  Die Ergebnisse der Fragebögen sollten die Grundlage eines Gesprächs bilden, das der Schulleiter oder seine Stellvertreter jährlich mit jedem Lehrer zu führen haben. Demselben Verfahren sollten sich die Schulleiter stellen, d.h. einer Bewertung durch die Lehrer.

Wichtigste Wirkung: Die Arbeit der Lehrer würde wahrgenommen, anerkannt und bewertet. Schulleiter würden vor allem erfahren, wie viel Gutes im Unterricht geschieht, von dem sie bisher wenig wussten. Wenn sie erfahren, dass Lehrer in Not sind, könnten sie ihnen helfen. Lehrer, die schlampig, ungerecht oder inkompetent arbeiten, müssten mit Konsequenzen rechnen.

Solche Evaluation wäre die erste Voraussetzung für die Einführung einer Führungskultur.
 
Bildungspolitischen Vorhaben dieser Art kosten Geld. In unserem reichen Land müssen wir uns entschließen, Bildung und Erziehung die erste Priorität einzuräumen und das auch dadurch beweisen, dass wir für eine angemessene Finanzierung sorgen.