Marlehn Thieme

Können Familien heute noch
Richtung und Orientierung geben?

Sehr geehrte Damen und Herren,
Können Familien heute noch Richtung und Orientierung geben?

Verfolgt man die gesellschaftliche Debatte der letzten Monate um die demographische Entwicklung unseres Landes, könnte man zu der Antwort neigen: ganz offensichtlich nicht.

- Die Geburtenrate ist auf einem historischen Tiefstand angelangt.
- Mit großer Verzögerung hat die Gesellschaft dies auch wahrgenommen. Die erschreckende Zahl, dass 40 % der Akademikerinnen kinderlos bleiben, ist volksbekannt.
- Das Thema Familie ist auch im Kontext der schlechten Bildungsnoten, die Deutschland erhalten hat, aus den Sonntagsreden auf den Tisch des politischen Geschäfts gelegt worden.

In dieser Situation, möchte ich drei Fragen nachgehen:

- Welche Funktion hat die Familie als Leitbild und in der Vermittlung von Orientierung und Richtung?
- Gefährden die gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen die Familien?
- und zum Schluss: Was brauchen Familien, um auch weiterhin Richtung und Orientierung geben zu können?


I.

Aber welche Familie meinen wir? Ist damit die typische Kleinfamilie von heute mit Vater, Mutter und durchschnittlich 1,2 Kindern gemeint?

Der Begriff der Familie ist im Deutschen ja nicht besonders alt. Bis in die Neuzeit hinein, sprach man von Haus, das schloss die Eltern, Großeltern, Kinder, unverheiratete Geschwister, Knechte und Mägde ein und war Lebens- und vor allem Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Lebensform prägt bis heute unsere Auffassung von Familie.

Keine Gesellschaft kommt ohne geprägte und prägende Formen des Zusammenlebens aus. So unterschiedlich sie sind, sie sollen nach christlichem Verständnis in geistlicher Dimension Liebe, in weltlicher Sicht Weitergabe, Entfaltung und Erhaltung von Leben ermöglichen. Dass schließt nicht aus, dass Familien versagen, dass in Ehen Gewalt geschieht und dass es auch andere überzeugende Lebensformen gibt. Aber eine prägende Lebensform als Struktur garantiert ja nicht das Gelingen ihrer Ausgestaltung. Das bedeutet aber nicht, dass deshalb auf ein Leitbild zu verzichten wäre. Wenn gerade heute viele Familien scheitern, ihre Versorgungs-, Erziehungs- und Bildungsfunktion nicht mehr erfüllen oder erfüllen können, sagt das noch nichts gegen die Lebensform "Familie" an sich. Vielmehr ist danach zu fragen, welche Gründe dazu beitragen und wie wir helfen können, dass es möglichst wenig Versagen gibt.

Zu jeder Zeit hat es ja auch andere Lebensformen gegeben, die diesem Leitbild nicht entsprechen und die deshalb nicht abgewertet sein müssen. Es ist vielmehr ein Ausdruck einer humanen Gesellschaft, Leitbilder zu haben und Ausnahmen wahrzunehmen, zuzulassen und zu integrieren. Familie ist um der Menschen willen da und nicht der Mensch um der Familie willen. Daher hat die EKD bereits 1998 zur ethischen Orientierung für ein Zusammenleben in Ehe und Familie anerkannt, dass Familie dort entsteht, wo Kinder geboren werden. Es wäre meines Erachtens ein tiefes Missverständnis von Pluralismus, wenn eine Gesellschaft der nachwachsenden Generation nur noch die "Gleich-gültigkeit" aller Lebensformen vermittelte. Daher ist mit Nachdruck die Notwendigkeit des Leitbildes der Familie ethisch und politisch zu vertreten. Die EKD tut dies auch dort, wo es um die Anerkennung anderer Lebensformen geht, wie zuletzt in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf zur Stiefkindadoption.


Um welche Richtungsweisung und Orientierung geht es?

Unsere Zeit ist geprägt von rasantem technischen Fortschritt, die die Familie in ihrem Kern betrifft. Ein Schub von Beschleunigung, von Kommunikation und Mobilität prägt gerade die beiden letzten Jahrzehnte. Das daraus resultierende Mehr an Flexibilität, sucht sich ihr Widerlager in dem Wunsch der Menschen nach Kontinuität, Stabilität und Sicherheit. Der Bedarf an Vertrauen in unserem Zusammenleben wird wieder artikuliert.

Familie ist der erste Rahmen, in dem grundlegende Erfahrungen von Vertrauen gemacht werden, in dem sich Vertrauen bildet. In dem Maße, in dem andere Strukturen durch Beschleunigung, erweiterte Kommunikationsmöglichkeiten und Mobilität flexibler werden, gewinnt die Familie sogar an Bedeutung.

Über die rein wirtschaftliche Zweckgemeinschaft ist die Familie der Raum, in dem Liebe - in ihrem tiefen, auch religiösen Sinne - zwischen Eltern und Kindern wachsen kann. In der Familie können Kinder die Rollen (Vater, Mutter, Kind, Geschwister, Großeltern, Freunde) und deren Interaktion wahrnehmen und erlernen. Sie werden so auf eine eigenständige Lebensführung vorbereitet. Die Familie bildet einen Raum der Verlässlichkeit, der Kinder in Geborgenheit aufwachsen lässt.

Und wer selber Kinder hat, weiß, welches große Maß an Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit erforderlich ist, damit Kinder Orientierung haben und selbstbewusst und autonom werden!

Aber der Schwerpunkt der Familienfunktion hat sich verlagert: War die Familie früher geprägt durch Mithilfe von Kindern in Haushalt und Landwirtschaft, durch Vorsorge für das Alter, so steht heute die emotionale Funktion der Familie im Vordergrund. Kinder werden heute um ihrer selbst willen und zur eigenen Bereicherung gewünscht. Hierzu reichen aber ein bis zwei Kinder aus. Angesichts der gestiegenen Anforderungen an Erziehungskompetenz und finanziellen Aufwand für Erziehung und Bildung scheint unter den gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen diese Kinderzahl geradezu funktional.

Parallel dazu werden Aufgaben, die in der Vergangenheit durch die Familie, überwiegend von Frauen, wahrgenommen wurden, zunehmend in gesellschaftliche Institutionen zur professionellen Wahrnehmung ausgegliedert. Das fing mit der Bildung in der Schule an und wird derzeit in der Betreuung von Kindern diskutiert. Im Interesse von Familie halte ich dies jedoch nur insoweit für akzeptabel und förderungswürdig, als die Familie damit unterstützt wird. Wo damit jedoch die wesentlichen Funktionen der Familie - Weitergabe, Entfaltung und Erhalt von Leben zu ermöglichen - ersetzt wird, halte ich es für wichtig, zu widersprechen.

II.

Gefährden gesellschaftliche und demographische Veränderungen die Familie selber, und damit ihre Aufgabe, Richtung und Orientierung zu geben?

Vielfach wird befürchtet, die Familie sei angesichts zunehmender Individualisierung ein Auslaufmodell, die klassische Familie mit zwei Elternteilen und formaler Eheschließung sei schlicht "out".

Die Zahlen sprechen eine deutlich andere Sprache: Trotz der Zunahme anderer Familienformen wollen noch immer 80 bis 90% der jungen Menschen Familie gründen und Kinder haben. Auch leben je nach Bundesland 90% bzw. 82% der Kinder unter 14 Jahren in einer Familie mit formaler Eheschließung und leiblichen Kindern. Betrachtet man die Haushalte, ist der Anteil der Familienhaushalte allerdings auf rund 1/3 gesunken. Dies ist jedoch nicht auf einen Bedeutungsverlust von Familie zurückzuführen, sondern darauf, dass die Lebenserwartung deutlich gestiegen ist, dass mehr junge Menschen eigene Wohnungen beziehen, die Kinderzahl gesunken ist und die Zahl der kinderlosen Haushalte gestiegen ist.

Demoskopische Untersuchungen haben ermittelt, dass die Familie nach wie vor der wichtigste Lebensbereich ist und dass die positive Einstellung zu Ehe und Familie in den letzten Jahren sogar noch gestiegen ist.

Dieser Befund scheint der Tatsache der hohen Scheidungsquoten zu widersprechen. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat gerade ermittelt, dass jede dritte Ehe geschieden wird, inzwischen auch nicht mehr im "verflixten" siebten Jahr, sondern bereits häufig im ersten und durchschnittlich im fünften. Und bei jeder zweiten der 2003 geschiedenen Ehen sind minderjährige Kinder betroffen.

Kann die Familie damit noch Orientierung und Richtung geben?

Die Forschung kennt die Erfolgsfaktoren einer dauernden Beziehung sehr genau: so sind Eheleute, die sich nicht als Individualisten verstehen, sondern als Gemeinschaft, besonders immun gegen Scheidung. Auch dort, wo der gedankliche und emotionale Rahmen und der Freundeskreis übereinstimmen, hat die Ehe eine höhere Trennungsbarriere. Hat die Ehe dagegen lediglich eine emotionale Beziehungsgrundlage, steigt die Scheidungsquote deutlich. Umgekehrt erhöhen sich die Chancen für den Bestand einer Ehe, wenn sie wirtschaftlich vorteilhaft für beide Partner ist, wenn Kinder oder Immobilienbesitz vorhanden ist oder beide Partner verdienen. René König, einer der bekanntesten Familiensoziologen, hat bereits 1969 festgestellt, dass nicht der Bedeutungsverlust der Ehe, sondern ihre gestiegene psychische Bedeutung das Ehescheidungsrisiko erhöht. Dies beweisen auch Umfragen, dass Geschiedene nicht die Ehe als Institution generell in Frage stellen oder gar ablehnen.

Ist es dann die Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die die Familie als prägende Lebensform in Frage stellt? Die meisten Menschen, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben, empfinden diese nicht als Konkurrenz zu Ehe und Familie: nur 2% lehnen die Ehe grundsätzlich ab, gut 70% wollen ihren Partner später heiraten oder das Zusammenleben prüfen. In dieser Einschätzung spiegelt sich nach Ansicht der Meinungsforscher vor allem das veränderte Auszugsverhalten junger Menschen aus dem Elternhaus und die deutlich verlängerten Ausbildungszeiten, mithin die "Ehe auf Probe".

Lassen Sie mich zusammenfassen: die Eltern-Kind-Familie hat keinen Bedeutungsverlust erlitten, sie ist nach wie vor festes Lebenskonzept. Sie ist aber durch die geringere Anzahl von Kindern und längere Lebensdauer zu einer Lebensform geworden, die nur noch einen Teil des Lebens bestimmt.

Und Adenauers Argument "Kinder hat man immer" ist widerlegt. Der Verzicht auf deutliche Familienprivilegierungen in der gesetzlichen Rentenversicherung hat sich als gefährliche Fehlentwicklung erwiesen. Knapp 1/3 eines Frauenjahrgangs bleibt heute kinderlos, vor 30 Jahren waren es nur 14 %. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Frau und ihrer Kinderzahl: 40 % der Akademikerinnen gegenüber nur 21% der Frauen mit Hauptschulabschluss.

Dieses beruht nicht auf einer freiwilligen, gewünschten lebenslangen Kinderlosigkeit. Vielmehr wird die Einlösung des vorhandenen Kinderwunschs zunächst verschoben, um Ausbildung und Beruf zu ermöglichen. Der Wertkonflikt zwischen Familien- und Berufsorientierung scheint - bewusst oder unbewusst - nicht lösbar. Die zunächst befristet gewünschte Kinderlosigkeit führt dann aufgrund fortgeschrittenen Alters zu einer im Lebensentwurf ungewollten Kinderlosigkeit. Der "Lebensstau" ist offensichtlich nicht mehr rechtzeitig aufzulösen.

Und die Veränderung der Mutter- und Vater-Rollen werden neue Probleme auf. Väter beteiligen sich heute sehr viel mehr an der Kinderbetreuung, wenn auch die Hauptverantwortung und die Hauswirtschaft nach wie vor bei der Mutter liegt. Die Erwerbstätigkeit von Müttern hat sich stark erhöht, über die Hälfte der Mütter von Kindern unter sechs Jahren ist erwerbstätig. Sie tun dies nicht nur aus ökonomischen Notwendigkeiten, sondern häufig aufgrund eines selbst gewählten Lebensentwurfes. Nach wie vor sind aber besonders in Deutschland die beiden Bereiche Beruf und Familie nur schwer zu vereinbaren, deshalb empfinden viele diese Lösung als Doppelbelastung. Sie nehmen das in Kauf, sei es aus Gründen der finanziellen Absicherung oder um beruflich den Anschluss nicht zu verlieren. Viele möchten nach einer anspruchsvollen Ausbildung und Berufstätigkeit neben der Mutteraufgabe nicht auf eine sie nicht erfüllende Haushaltstätigkeit verwiesen werden. Denn die Zufriedenheit von Ganztagshausfrauen hängt ganz wesentlich von der individuellen Einstellung ab.

Diese gesellschaftlichen Veränderungen fallen in eine Zeit wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit. Bereits 1997 ermittelte die anerkannte Shell-Jugendstudie deren Auswirkung auf die jungen Menschen. Lagen früher die typischen Jugendsorgen in der Suche nach einer eigenen Identität, in der Abkoppelung vom Elternhaus, in der Wahl eines Lebenspartners und der Errichtung einer selbständigen Existenz, so stehen seitdem die Arbeitslosigkeit, Globalisierung und die Finanzlücken und Schulden der öffentlichen Hände im Vordergrund der Sorgen junger Menschen. Dies hat eine in der Shell-Jugendstudie 2002 nachgewiesene pragmatische Jugendgeneration hervorgebracht, die leistungsorientiert und eigenverantwortlich ihre Lebensentwürfe angeht, hoch flexibel die eigenen Chancen nutzt und die persönlichen Risiken minimiert. Da scheinen Familiengründung und Kinder zum vermeidbaren Risiko zu werden, obwohl der Kinderwunsch besteht. Denn immer noch wünschen sich junge Menschen durchschnittlich zwei Kinder, in Westdeutschland wünscht sich immerhin ein Drittel der Paare sogar mehr als zwei Kinder, während sich ostdeutsche Paare zu einem Fünftel nur ein Kind wünschen. Aber je ausgeprägter die Berufsorientierung der Frau, umso weniger Kinder wünschen sich die Paare. Offensichtlich spielen dabei Eindrücke einer mangelnden Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit eine Rolle.

Die von vielen jungen Menschen gewünschte Balance zwischen Familie und Erwerbstätigkeit lässt sich im Familienalltag offenkundig zu wenig realisieren. Zu Beginn der Eheschließung haben zumeist beide Partner ihre berufliche Laufbahn erfolgreich eingeschlagen und sind in ihrem Arbeits- und Berufsumfeld integriert. Da beide verdienen, verfügen die Paare zu Beginn der Ehe über ein ausreichendes bis gutes Einkommen.

Nach der Geburt des ersten Kindes treten jedoch Veränderungen auf. Besonders auffallend ist die Rückkehr zur traditionellen Rollenverteilung etwa ein Jahr nach der Geburt: Viele Mütter geben ihre Erwerbstätigkeit auf oder unterbrechen sie, sie werden mehr oder weniger alleinzuständig für die Alltagsorganisation und Hausarbeit, während sich die Väter nach dem Erwerbsausstieg der Frau mit der alleinigen Zuständigkeit für die materielle Versorgung der Familie als "Familienernährer" konfrontiert sehen.

Dies hat - so entsprechende empirische Studien - auch Einfluss auf die Ehezufriedenheit der Paare, insbesondere der Frauen, wenn diese sich ihren Familienalltag zunächst anders vorgestellt hatten. Frauen sind umso unzufriedener, je traditioneller sich die Rollenteilung entwickelt hat. Auch wenn viele Mütter einverstanden sind, während der Kleinkindphase ihrer Kinder zunächst mehr Familienaufgaben zu übernehmen, so schwindet diese Bereitschaft mit zunehmendem Alter der Kinder. Nur die wenigsten Frauen möchten ihre Erwerbsarbeit ganz aufgeben, im Osten noch weniger als im Westen, und doch sind fast ausschließlich sie es, die von einer kindbedingten Erwerbsunterbrechung betroffen sind. Nur ca. jede dritte Mutter arbeitet nach der Elternzeit wieder an ihrem früheren Arbeitsplatz. Diese Unsicherheit hält viele Frauen offenkundig davon ab, ihre Mutterrolle anzunehmen, obwohl sie das Leitbild Familie akzeptieren.

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich trotz aller Individualität und damit Pluralität das Leitbild Familie robust erweist. Als nachweisbare Familienhindernisse sind die mangelnde Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit, von Familie und Ausbildung, die hohen Ansprüche an Elternschaft und die fehlende "Nutzeneindeutigkeit" von Kindern, so eindrucksvoll Frau Prof. Nave-Herz, ausgemacht worden.

 Es geht also darum, die Rahmenbedingungen von Familie zu verbessern, damit die ganz praktischen Probleme gerade für junge Familien in der gewünschten Balance von Familien- und Erwerbsarbeit lösbar werden und damit kein unverhältnismäßiger und uneinholbarer finanzieller Nachteil entsteht, Kinder aufzuziehen. Dann werden Familien ihre wegweisende Rolle besser erfüllen können.

III.

Was brauchen Familien heute?

Familien brauchen praktische Unterstützung

Familien brauchen bei der Erziehung ihrer Kinder soziale und institutionelle Netzwerke. Diese Netzwerke müssen sowohl familienunterstützende als auch familienergänzende Angebote bereithalten.

Familienergänzende und -unterstützende Einrichtungen sind notwendig, damit Eltern ihre Vorstellungen von Erwerbsarbeit und Familientätigkeit verwirklichen können und sicher sein können, dass ihre Kinder nicht nur vernünftig betreut, sondern auch erzogen und ausgebildet werden. Die Ehepartner müssen selber entscheiden können, ob einer der beiden ganz oder teilweise zugunsten der Erziehung der Kinder auf Erwerbstätigkeit verzichtet. Der Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung ist für viele Eltern eine unerlässliche Voraussetzung für die Organisation des Familienalltags. Trotz des bestehenden Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ist eine Betreuung der Kinder oftmals nicht gesichert: In zu vielen Fällen beschränkt sich das Angebot auf nur wenige Stunden. Notwendig ist insbesondere eine ausreichende Zahl von Ganztagsplätzen. Dies gilt auch für Kinder unter drei und über sechs Jahren. Tageseinrichtungen für Kinder haben auch einen eigenständigen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Sie leisten einen entscheidenden und grundlegenden Beitrag zur Chancengleichheit bezüglich der Lebens- und Lernmöglichkeiten von Kindern und zur Integration von Kindern. Es muss gewährleistet sein, dass Tageseinrichtungen diese qualifizierte Bildungs-, Erziehungs- und Integrationsarbeit auch (weiterhin) leisten können.

Auch die Schulen sollen Kindern und Jugendlichen Verhaltensweisen, Wissen und Fertigkeiten vermitteln, die sie zur selbständigen Gestaltung ihres Lebens befähigen. Schule darf deshalb nicht nur Wissen weitergeben, sondern sollte eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung fördern, indem sie Lebens- und Alltagskompetenz vermittelt und einen Erfahrungsraum bietet zur Einübung selbst bestimmten und mitmenschlichen Verhaltens. Schulen sollten wie in vielen europäischen Ländern neben der zeitlichen Verlässlichkeit auch sicherstellen, dass durch entsprechende pädagogische Begleitung gleiche Lernchancen für alle Kinder und Jugendlichen geschaffen werden.

Familien brauchen Zeit

Von Arbeitnehmer/innen und insbesondere von Führungskräften wird ein ständig steigendes Maß an Zeiteinsatz, Flexibilität und Mobilität erwartet. Es liegt aber im Interesse aller, die Familie zu stärken. Viel zu wenig werden bisher familienorientierte Arbeitszeitkonzepte, z. B. durch die Einrichtung von Zeitkonten, Sabbat-Zeiten oder flexiblere Arbeitsteilung im Team genutzt.

Familien brauchen materielle Sicherheit und Ausgleich

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Familien leben, haben sich stark verändert. Besonders dramatisch ist dies im Bereich niedriger Einkommen. Familien mit Kindern tragen heute das größte Armutsrisiko. Der Anteil der Kinder unter den Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Sozialhilfe ist in den vergangenen Jahren überproportional gestiegen. Die Entscheidung für Kinder bedeutet oft nicht nur, dass der betreuende Elternteil auf Einkommen in der Gegenwart verzichtet, sondern sie hat auch Folgewirkungen auf sein zukünftiges Einkommen und damit auch auf seine soziale Sicherung in der Zukunft. Sie kann zudem sein berufliches Fortkommen einschränken.

Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zur Verteilung der Kinderkosten in unserer Gesellschaft und zu den Unterschieden in der Höhe des verfügbaren Einkommens bei Familien mit Kindern bzw. bei kinderlosen Alleinstehenden und Paaren kommen zu dem Ergebnis, dass die Kinderkosten ganz überwiegend den Familien aufgebürdet werden. Familien mit Kindern haben daher ein ungleich geringeres Einkommen zur tatsächlichen Verfügung als Kinderlose.

Die Entscheidung für Kinder und die Verantwortung für die Erziehung von Kindern liegt bei den Eltern. Kinder vermitteln in vielerlei Hinsicht einen "Gewinn". Insofern tragen die Eltern zu Recht einen Teil der damit verbundenen Kosten. Der jetzige Zustand ist aber nicht hinzunehmen:

- Familien mit Kindern erbringen Leistungen für die Gesellschaft, von denen auch Alleinstehende und kinderlose Paare profitieren. Insofern ist ein Familienleistungsausgleich angemessen.

- Familien mit Kindern sind im Vergleich zu Alleinstehenden und kinderlosen Paaren über Gebühr belastet. Ein Familienlastenausgleich ist daher ein Gebot der Bedarfsgerechtigkeit.

Auch wenn in der Familienpolitik vom "Familienleistungsausgleich" gesprochen wird, ist dieser in Deutschland nicht entwickelt. Die nächsten Reformschritte in der Altersicherung müssen jeder Frau und jedem Mann den Aufbau einer kontinuierlichen, eigenständigen Rentenbiographie ermöglichen. Dabei sind Familientätigkeiten wie Kindererziehung und Pflege von Angehörigen in der Bewertung der Erwerbstätigkeit gleichzustellen.
In der Pflegeversicherung haben wir erste Anzeichen eines Umdenkens in Gesetzesform vorliegen, in der Krankenversicherung laufen die Diskussionen. Im Steuerrecht ist der bereits vom Bundesverfassungsgericht mehrfach geforderte Ausgleich erst noch herzustellen. Bei allem kann es nur darum gehen, die die Kinder aufziehen nicht weiterhin substanziell zu benachteiligen.

Familien brauchen eine familienfreundliche Umgebung

Wir Deutschen stehen mit den familienpolitischen Problemen nicht alleine da, wenn sie sich bei uns auch besonders krass darstellen. Vor allem müssen wir unsere berechtigte Scheu vor familienpolitischen Maßnahmen ablegen. Daher benötigen wir, um mit dem Richter am Bundesverfassungsgericht di Fabio zu sprechen, eine "kulturelle Wende". Es ist ein ermutigendes Zeichen, dass die darüber anstehende politische Diskussion jetzt in Staat und Wirtschaft, in gesellschaftliche Organisationen und Parteien inzwischen richtig begonnen hat.

Aber wir müssen die Perspektive auch umkehren: Damit Familien die Aufgaben und Lasten tragen können, brauchen sie ein intaktes Umfeld, dazu gehören Begleitung durch Nachbarn, Zuwendung von Freunden und die flankierende Unterstützung von Gesellschaft, Staat und weiterhin auch der Kirchen. Familien brauchen ein kinderfreundliches und damit auch fröhliches und unbeschwertes Umfeld. Dazu gehört vor allem, die Familie als Leistungsträger in unserer Gesellschaft nicht weiter ab- sondern aufzuwerten.

"Wenn dein Kind dich morgen fragt¿" aus dem 5. Buch Mose (6,20) lautet die Losung des Evangelischen Kirchentages 2005 in Hannover. Sie soll Richtung die anzeigen, in die sich der Blick muss, wenn Orientierung und Ziele für die Zukunft fehlen. Wir müssen ihn auf unsere Verantwortung für Familien und Kinder richten und handeln.

 Ich danke Ihnen.