Petra Gerster

Erziehung und Bildung als Grundlagen des Lebens

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

über die Kunst des Lebens soll ich hier reden, und eine Frage soll ich hier beantworten: die Frage, was Erziehung und Bildung zu dieser Lebenskunst beitragen können - und das alles möglichst in 30 Minuten.

Das geht natürlich nicht, denn über diese Fragen wird in unserem Kulturkreis ungefähr seit 3.500 Jahren nachgedacht, und die Bücher, die darüber geschrieben wurden, füllen schätzungsweise zehntausend Regalmeter. Das wenigste davon habe ich gelesen.

Wenn ich also trotzdem den Mut aufbringe, hier etwas über Lebenskunst, Bildung, Erziehung, Orientierung und Sinngebung zu sagen, dann deshalb, weil ich mich dabei weitgehend auf meine eigenen Erfahrungen und Gedanken beschränke, wobei, wie ich gleich hinzufügen muss, dieses Eigene zum größten Teil aus mir Zugefallenem besteht.

Aber das ist bei allen Menschen so, und diese Erkenntnis, dass wir uns im Wesentlichen nicht uns selbst verdanken, sondern hauptsächlich irgend welchen außer uns liegenden Zufällen, diese Einsicht halte ich schon mal für ein wesentliches Element von Bildung, denn diese Einsicht macht bescheiden, und Bescheidenheit ist eine Zier.
Auch und gerade den Gebildeten ziert diese Bescheidenheit, auch und gerade in einer Zeit, die an den Markt glaubt, die auf den Slogan setzt "Leistung muss sich wieder lohnen", und die dabei suggeriert, dieser Markt sei ein höchst gerechtes System, weil es jeden nach seiner Leistung bezahlt, die Tüchtigen und Fleißigen belohnt, die Luschen und Faulen bestraft und nur die Besten nach oben kommen lässt.

Wie aber wird man eigentlich "Bester"? Durch eigenen Fleiß, eigene Tüchtigkeit, durch Genialität und /oder eigene Bildungsanstrengungen? Und woher kommt dies "Eigene"?

Es kommt vom Elternhaus, von den ererbten Genen, von den Verwandten und Bekannten, Geschwistern, Sandkastenfreundschaften, Kinderfrauen, Lehrern, Pfarrern, Mitschülern, Professoren, Freunden und Feinden. Es kommt von den Büchern, die man gelesen, und von den Filmen, die man gesehen hat, von der Zeitungslektüre und von tausend anderen Einflüssen, die sich auch untereinander wechselseitig und auf undurchschaubare Weise beeinflussen. Das "Eigene" - es ist zum größten Teil Verliehenes, Geschenktes, Zugefallenes, Zufälliges.

Was aus einem wird, das hängt zum geringsten von einem selber ab. Viel entscheidender ist, ob einer in einem Dorf in Anatolien geboren wurde oder in einer Villa in München-Grünwald, ob in seinem Land Demokraten regieren oder Diktatoren, ob er vor 20 Jahren geboren wurde, vor 40 oder gestern, ob er mit weißer Hautfarbe und männlichem Geschlecht auf die Welt kommt oder mit schwarzer Farbe und weiblichem Geschlecht, ob er als Kind geliebt wurde oder gehaßt, ob er eine robuste Konstitution mitbekommen hat oder eine schwache, ob er gesund ist oder krank, ob er neugierig ist und sich deshalb Wissen aneignet, oder ob er sich für nichts interessiert und deshalb dumm bleibt.

Wenn sich von all diesen Schicksalsfaktoren die günstigen mehrheitlich in einem Menschen vereinen, dann kann dieser durch eigenes Zutun sein Glück zu Ende schmieden, und selbst dabei braucht er noch ein bißchen Glück. Er muß seine Schmiedearbeiten auch noch zur richtigen Zeit am richtigen Ort leisten und dort die richtigen Personen treffen, und ob wirklich alles richtig war, weiß man immer erst hinterher.

Wenn es aber so ist, daß Zufälle unser Schicksal stärker bestimmen als wir selbst, dann haben die von den Zufällen Begünstigten allen Grund, nicht allzu stolz die eigenen Verdienste hervorzukehren und daraus für sich das Recht auf die größten Stücke vom Kuchen abzuleiten.

Gebildete Hochleister wissen nämlich: Kaum einer wird bei uns so bezahlt, wie er es gemäß seiner Leistung, seiner Verantwortung, seiner Bedeutung und seinem Nutzen für die Gesellschaft verdient. Was einer verdient, bestimmen in erster Linie der Markt und die Verhandlungsmacht, über die einer verfügt. Markt und Macht spielen eine viel größere Rolle als tatsächliche Leistung, Verantwortung und Nutzen für andere, und darum verdient Verona Feldbusch sehr, sehr viel mehr als die beste Krankenschwester und auch mehr als die besten Ärzte und viele gute Manager.

Ich habe bewusst mit dieser Kritik unseres Glaubens an den Markt begonnen, weil ich diesen stark grassierenden und mittlerweile vorherrschenden Glauben für einen Aberglauben halte, und weil jeder Aberglaube in die Irre führt. Der Markt ist ein wunderbares Instrument, um den Preis einer Ware zu ermitteln. Der Markt eignet sich hervorragend, um Güter und Dienstleistungen kostengünstig zu produzieren und sie effizient zu verteilen. Und der Markt kann innerhalb gewisser Grenzen auch ein Wegweiser für persönlichen Erfolg sein.

Aber der Markt ist völlig ungeeignet, meinem Leben Sinn und Orientierung zu geben. Genauso ungeeignet ist er, um einen Wegweiser für die Politik abzugeben oder einem Land die Zukunft zu weisen. Wo der Markt trotzdem als solch ein Wegweiser benutzt wird, führt er in die Irre.

Das ist mir vor ungefähr zwei Jahren richtig bewusst geworden, als die Wirtschaft plötzlich und zu Recht auf die Mängel unseres Bildungssystems aufmerksam machte. Das Problem hatte sie erkannt. Aber mit der Deutung und den daraus abgeleiteten Lösungsvorschlägen lag sie falsch.

Die Verbandsvertreter der Wirtschaft hatten damals den Eindruck erweckt, unser größtes bildungspädagogisches Problem seien die fehlenden Internet-Anschlüsse an den Schulen und die mangelnde Fähigkeit unserer Schüler, Businesspläne zu erstellen.

Schon forderte Bildungsministerin Bulmahn einen Laptop für jeden Schüler, Arbeitgeberpräsident Hundt, das Fach Wirtschaft in die Lehrpläne aufzunehmen, und die Politiker aller Parteien waren drauf und dran, die Schule in eine Ausbildungsfabrik zu verwandeln, in die man vorne einen Schüler hineinschiebt und hinten einen Siemens-Nixdorf-Ingenieur herauszieht.

Ich habe nichts dagegen, wenn der Staat meiner Tochter oder meinem Sohn ein schickes Notebook schenkt. Dann hab' ich meinen Computer wenigstens wieder für mich allein. Aber lieber wär's mir, der Staat würde erst einmal dafür sorgen, dass nicht so viele Unterrichtsstunden ausfallen.

Damals vor zwei Jahren, als diese Diskussion losging, wechselte gerade unsere Tochter von der Grundschule aufs Gymnasium. Vom ersten Tag an fiel der Deutsch-Unterricht aus. Sport auch. Von unseren Bekannten und Verwandten aus anderen Bundesländern hörten wir das gleiche: In ganz Deutschland fallen Millionen von Unterrichtsstunden aus.

Da fragten wir uns: Kann es sein, dass die Politiker, Funktionäre und Bildungsexperten in einer anderen Welt leben als Schüler, Lehrer und Eltern? Kann es sein, dass wir ganz andere Probleme haben als die Tag und Nacht an den Markt und an die Wirtschaft denkenden Experten glauben?

Mein Mann und ich, wir sind Journalisten, und in dieser Situation taten wir, was unser Job ist: Wir recherchierten. Die Recherche ergab, was wir dann unter dem Begriff Erziehungsnotstand zusammenfassten: Eltern, die nicht mehr erziehen, weil sie es nicht können, nicht wollen oder sich überfordert fühlen; Kindergärten und Krippen, in denen Kinder zwar betreut, aber kaum gefördert werden; Schulen, in denen sich ausgebrannte, von ihren Aufsichtsbehörden gegängelte, entmutigte Lehrer und lustlose, uninteressierte, schlecht erzogene Schüler gegenseitig anöden; Schulmauern, von deren Wänden der Putz bröckelt; Schulbücher, die teilweise 20 Jahre alt sind und noch nichts vom Euro und dem Fall der Mauer wissen.

Die Lehrer erzählten uns von armuts- und wohlstandsverwahrlosten Kindern, von Ausländerkindern, die kein Wort Deutsch sprechen, von den Problemen der Scheidungskinder und den Sorgen Alleinerziehender, von sprachgestörten und verhaltensauffälligen Kindern, vom "Zappelphilipp-Syndrom" ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit und ohne Hyperaktivität), von den Schwierigkeiten der Jungen, eine männliche Identität auszubilden, weil sich die Erziehung während der ersten zehn Lebensjahre fest in weiblicher Hand befindet, von Mobbing im Klassenzimmer und Aggressionen auf dem Schulhof, von Gewalt und Erpressung auf dem Schulweg, von Drogen, vom Konsumterror, von wachsender Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen, und von Kindern, die vor Fernsehgeräten, Videospielkonsolen und Computermonitoren vereinsamen und verstummen. Aber unsere Politiker und Wirtschaftslobbyisten beklagten den fehlenden Internet-Anschluss.

Weil uns die Diskrepanz zwischen der öffentlich geführten Bildungsdebatte und der Erziehungsrealität in Familie, Kindergarten und Schule so groß vorkam, haben wir im Herbst 2000 unser Buch über Bildung und Erziehung in Deutschland geschrieben, und eigentlich wollten wir es damit bewenden lassen, denn danach kam der von uns prognostizierte PISA-Schock, und die Debatte, die wir mit unserem Buch anstoßen wollten, setzte ein.

Allerdings: Bis jetzt wurde n u r debattiert. Der Pisa-Schock vom Frühjahr ist überstanden, und passiert ist bis heute: nichts.

Und schon wieder ging es in der Debatte hauptsächlich nur um Wettbewerbsfähigkeit, Schlüsselqualifikationen, Berufstauglichkeit, marktgängige Kompetenzen, "Humankapital", Bildung als die Fähigkeit, die Japaner und Koreaner zu schlagen. Schon wieder ging und geht es nicht primär um unsere Kinder und deren Wohl, sondern weiterhin um das Wohl der Wirtschaft.

Und vor allem: Die Probleme werden auf Schulprobleme reduziert.
Es wird zu viel über Administratives geredet, und zu wenig über die Familie, am allerwenigsten über die Frage, wie es eigentlich unseren Kindern geht, wie sie aufwachsen, wie es in ihrem Inneren aussieht, was mit ihrer Seele los ist.

Aus diesen Gründen schreiben wir jetzt gerade doch an einem weiteren Buch, denn unsere Botschaft des ersten Buches ist offenbar noch nicht angekommen, und diese Botschaft lautete: Unerzogene kann man nicht bilden, und diese bilden auch sich selber nicht.

Wir möchten noch einmal versuchen, eine Debatte anzustoßen, die über die bisherige Debatte hinausgeht. Nicht über administrative Maßnahmen, kultusministerielle Beschlüsse und über Geld möchten wir reden - obwohl das natürlich alles auch notwendig ist - sondern primär über Bildung und Erziehung und die Frage, was Bildung eigentlich ist, und wie und auf welche Ziele hin eigentlich erzogen werden soll im 21. Jahrhundert.

Was also ist Bildung? Worauf kommt es an?

Wenn es nach der Wirtschaft geht, ist Wettbewerbsfähigkeit das oberste Ziel.
Und das, meine ich, kann es eben gerade nicht sein. Wettbewerbsfähigkeit ist überhaupt kein Bildungsziel, sondern nur ein Abfallprodukt, das zum Glück fast zwangsläufig als Ergebnis gelungener Bildung und Erziehung entsteht.

Ich verkenne nicht den Wettbewerbsdruck, dem unsere Wirtschaft ausgesetzt ist. Ich verkenne nicht die berechtigte Forderung der Arbeitgeber nach mehr Leistung in der Schule. Ich habe nichts gegen eine Schule, die unsere Kinder auch fit für den Wettbewerb macht, ich bin für Elitebildung und Eliteförderung - zumal ich selbst in ihren Genuss gekommen bin -, aber die Prioritäten müssen richtig gesetzt werden.

Zuerst das Kind, dann die Wirtschaft, nicht umgekehrt. Zuerst die Familien stärken, besonders die Kinder, dann die Lehrer und die Institution Schule. Zuerst eine gute Erziehung und emotionale Stabilität für jedes Kind, dann eine umfassende Allgemeinbildung, danach erst die berufliche Ausbildung und alles weitere, das auch der Gesellschaft, der Wirtschaft und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nützt, -- ganz abgesehen davon, dass der Wirtschaft nichts besser nützt als stabile Charaktere und starke Persönlichkeiten mit gelungener Bildung und guter Erziehung.

Was aber sollen wir unter "gelungener Bildung und guter Erziehung" verstehen? Wenn nicht Wettbewerbsfähigkeit das Ziel ist, was dann?
Der von Bildungspolitikern, Erziehungswissenschaftlern, Lehrern, Eltern und Funktionären vollgeschriebene Wunschzettel ist lang. "Praktische Lebenstüchtigkeit" finden wir darin genauso wie "das zur Orientierung in einer komplexen Welt notwendige theoretische Rüstzeug" oder "die Fähigkeit zu unternehmerischem Denken und selbständigem Handeln" plus "Allgemeinwissen", "Weltkenntnis", "Mehrsprachigkeit", "Zukunftsfähigkeit".
Darüber hinaus sind "Schlüsselqualifikationen" gefragt, wie etwa die "Fähigkeit zur Kritik, zu Einspruch und Widerstand" oder "innovatives Denken und Handeln". Und natürlich das, was schon immer gefragt war: Analytisches Denken, Rationalität, Vernunft, Phantasie, Mut und Eigeninitiative.

Und wenn auch ich noch ein paar Wünsche äußern darf: Ich hätte gern noch den Humor dabei, die Fähigkeit zur Selbstironie und das Eingeständnis, dass sich Schulversager und Bildungsverweigerer manchmal zu den interessantesten Persönlichkeiten entwickeln. Und dazu die Einsicht: Bildung schützt vor Torheit nicht.

Das ist schon ziemlich viel. Aber selbst, wenn alles abgehakt wäre, wäre das Ergebnis wirklich der rundum gebildete Mensch? Wohl kaum.

Heinrich von Kleist hat in seinen jungen Jahren in der Armee gedient, war dort wohl nicht sehr glücklich und quittierte den Dienst, studierte Philosophie und wurde Dichter. Wäre er von seinen Eltern und Lehrern "fit für das Leben" gemacht worden, wäre er sicher Soldat geblieben. Als lebenstüchtiger preußischer Armee-Offizier hätte er auch nicht den "Zerbrochenen Krug" geschrieben, der beim Publikum durchfiel, nicht die "Penthesilea", die ebenfalls floppte, und auf keinen Fall mehr den "Prinzen von Homburg", ein Mißerfolg, der Kleist in den Selbstmord trieb. Spätestens nach dem "Krug"-Debakel hätte ein zu unternehmerischem Denken erzogener Dichter sich am Markt orientiert, gefälligere Stücke geschrieben, Erfolg gehabt, Henriette Vogel geheiratet, Kinder in die Welt gesetzt und seinen Dienstboten gesagt, wann der Rasen zu mähen ist. Dann wäre Kleist heute zwar vergessen, aber hätte alle Tüchtigkeitskriterien unserer Wettbewerbsgesellschaft erfüllt.

Tüchtigkeit darf schon sein, aber zur Bildung steht sie in einem eher losen Zusammenhang, ähnlich lose wie die allerorten eingeklagte "Zukunftsfähigkeit". Wenn wir wüssten, wie die Zukunft wird, spräche nichts gegen den Versuch, unsere Kinder auf ihr zukünftiges Leben vorzubereiten. Mit Bildung hätte auch das wenig zu tun, und da sich bisher schon jeder Prophet blamiert hat, so bald er konkret wurde, dürfen wir das Wort Zukunftsfähigkeit getrost im Museum für sinnlose Vokabeln entsorgen.

Nun fordern Politiker, Unternehmer und Manager aber, die Schule solle weniger Paukstoff verabreichen, weniger Problemlösungen liefern als vielmehr das Lösen von Problem üben, weil doch Wissen heutzutage so schnell veraltet.

Das klingt gut. Doch erstens war die Fähigkeit, Probleme zu lösen schon immer und überall gefragt. Die alte Industriegesellschaft hätte sich überhaupt nicht entwickeln können ohne diese Fähigkeit. Und zweitens muss, wer lernen will, wie man Probleme löst, erst einmal in der Lage sein, ein Problem überhaupt zu erkennen und zu verstehen. Dazu muss er über Grundlagenwissen verfügen und zusätzlich lernen, welche Probleme andere vor ihm wie gelöst haben. Das geht leider nicht ohne Pauken, Memorieren und das Verstehen einfachster Zusammenhänge.

Wer nicht weiß, was ein Motor ist und wie man ihn baut, wird kaum in der Lage sein, einen bestehenden Motor zu verbessern. Wer nicht weiß, wie ein Computerprogramm funktioniert, wird auch keines entwickeln können.

Die Forderung, ein Schüler möge doch bitte lieber Probleme lösen, statt zu pauken, ist ungefähr so sinnvoll wie die Forderung, ein Klavierschüler solle lieber Bachsche Fugen spielen und komponieren lernen, als sich in Fingerübungen zu ergehen.

Die Schule kann also gar nicht anders, als mit Fingerübungen - der Vermittlung von Grundkenntnissen, Fertigkeiten, Wissen und Problemlösungen - zu beginnen. Danach mag sie darüber hinaus die Schüler anleiten, selbstständig Probleme zu lösen. Dennoch zählt auch die Problemlösungskompetenz eher zu den Merkmalen des tüchtigen als zu denen des gebildeten Menschen.

Ein weiteres Kennzeichen der Epoche sei die Explosion des Wissens, hören wir. Doch deshalb auf die Aneignung von Wissen in der Schule zu verzichten oder nur noch das Lernen zu lernen oder sich das aktuell nötige Wissen jeweils aus dem Internet zu holen, wäre albern. Denn bei dem täglich neu entstehenden Wissen handelt es sich zum größten Teil um Spezialwissen, über das zu verfügen nur für kleine Personenkreise wichtig ist. Alle anderen dürfen es getrost ignorieren, und wer je auf der Suche nach einer ganz bestimmten Information das Internet benutzt hat, weiß, wie viel Zeit dabei verschwendet werden muss, um am Ende festzustellen, dass man viel Interessantes gefunden hat, was man nicht suchte, aber das, was man eigentlich finden wollte, nicht gefunden hat.

Natürlich wächst neben dem Wissen für Spezialisten auch jenes Wissen, das alle betrifft. Dieses Wissen wird aber niemand verstehen, der nicht schon über ein bestimmtes Vorwissen verfügt. Ohne dieses Vorwissen könnte die Allgemeinheit das neue Wissen in seiner Bedeutung nicht einmal richtig einordnen.

Deshalb kommt es nicht darauf an, dass die Schule mit der Wissensexplosion Schritt hält, sondern darauf, dass sie ein solides Vorwissen vermittelt. Jenes Vorwissen, das Bestand hat, sich kaum ändert, aus Büchern ebenso gut bezogen werden kann wie aus Monitoren, und unbedingt nötig ist, um das neu hinzukommende Wissen überhaupt verarbeiten zu können.

"Einen bürgerlichen Bildungsschatz gibt es nicht, es gibt überhaupt kein zeitloses Wissen", sagt Erika Risse, die Direktorin am "Haus des Lernens" in Oberhausen. Mit dem Bildungsschatz mag sie recht haben, mit dem zeitlosen Wissen hat sie nicht recht. Das gibt es sehr wohl. Die lutherische Reformation, die Musik Beethovens, Goethes Faust, die Newtonschen Gesetze und deren Korrektur durch Einstein, Freuds Entdeckung des Unbewussten - dies alles bleibt, und es bleibt weiterhin wichtig.

Der Pythagoräische Lehrsatz gilt auch in tausend Jahren noch, und wer Physiker, Astronom oder Architekt werden will, muss zuerst die geometrischen Zusammenhänge in einem rechtwinkligen Dreieck und vieles andere begriffen haben, bevor er überhaupt Physiker oder Architekt werden kann.

Deshalb kann die Wissensexplosion die Schule kalt lassen. Ihr Metier ist nicht das Tageswissen, sondern das Jahrtausend- und Jahrhundertwissen, und davon befindet sich gegenwärtig nur der geringste Teil im Internet oder auf CD-ROMs.

Und was muss ein Gebildeter wissen? Vielwisserei ist noch keine Bildung. Wichtiger als die Menge und wichtiger als das "Was" ist das Verständnis des Gewussten. Das setzt voraus, dass man sein eigenes Wissen strukturieren kann. Dort, wo Wissen nicht zusammenhängt, versucht der Gebildete, "einen Zusammenhang herzustellen, oder wenigstens zu verstehen, warum dies schwer gelingt", sagt der Philosoph Robert Spaemann.

Bei solchem Bemühen hilft der unstrukturierte Datenhaufen des Internet nur wenig. Der Bildungseffekt, der sich aus der zielgerichteten Lektüre eines Buches von vorne nach hinten ergibt, dürfte daher ungleich nachhaltiger sein, als das eher zufällige Herumstreunen in den meist zufällig miteinander verlinkten Hypertexten des Internet.
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Nun habe ich ausführlich gesagt, was Bildung alles nicht ist und die Geduld jener strapaziert, die darauf warten, dass ich endlich sage, was Bildung sei und warum das bisher Aufgezählte mit Bildung nichts oder nur wenig zu tun hat. Was also ist Bildung?

Inmitten der grassierenden Nützlichkeitsdiskussion betont der Philosoph Robert Spaemann fast provokant die Zweckfreiheit von Bildung. Bildung sei eigentlich zu nichts nütze, und der "Gebildete ist nicht nützlicher als der Ungebildete". Bildung ist kein Mittel zum Zweck, sondern hat seinen Zweck in sich selbst und dient ausschließlich dem, der sich bildet. Das halten wir für das Entscheidende, und das hat schon der Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt so gesehen.

Als er 1809 zum Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens ins Preußische Innenministerium berufen wurde, korrigierte er die Reform-Bestrebungen seines Vorgängers, der die Landesuniversitäten zu höheren Fachschulen umformen und die Schulen nach dem Prinzip der unmittelbaren Nützlichkeit ausrichten wollte. Dagegen war es Humboldts Ziel, eine universelle Bildung durch die Entfaltung aller Kräfte der Persönlichkeit zu fördern.

Nicht spezialisiertes Fachwissen, sondern Allgemeinbildung und Orientierungswissen standen für Humboldt im Mittelpunkt der Schul- und Universitätsbildung. Und nicht Nützlichkeit, Tüchtigkeit oder Wettbewerbsfähigkeit waren das Ziel der Bildung, sondern Humanität und gelungenes Menschsein. Der harmonische Mensch, der alle seine Anlagen, Möglichkeiten und Kräfte gleichmäßig und allgemein ausgebildet hat, der sei gebildet, war Humboldts Überzeugung.

Seine Reformen mündeten in die Konzeption des humanistischen Gymnasiums, in dem die alten Sprachen Latein und insbesondere Griechisch einen bevorzugten Platz zugewiesen bekamen. Das Ziel ihres Studiums bestand aber nicht darin, diese um ihrer selbst willen zu erlernen, sondern durch sie und durch ihr Erlernen einen methodischen und inhaltlichen Zugang zur Erkenntnis des Menschen zu erhalten und eine Einsicht in die Möglichkeit seiner Entfaltung zu einer vollständigen Humanität.

Bildung erschöpft sich aber nicht in reinem Selbstzweck. Bildung hat Folgen. So zeichnet den Gebildeten beispielsweise aus, dass er den "animalischen Egozentrismus" hinter sich gelassen hat und sich dafür interessiert, "wie die Welt aus anderen Augen aussieht", sagt Spaemann - nicht aus irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen heraus, etwa, weil der Perspektivwechsel in einer globalisierten Welt bessere Geschäfte ermöglicht, sondern zur Befriedigung der puren Neugier.

Man sieht also, dass Wettbewerbsfähigkeit durchaus ein Nebenprodukt von Bildung sein kann. Wer sich dafür interessiert, wie die Welt aus den Augen von Japanern, Koreanern oder Indern aussieht, versteht diese besser und kommt mit jenen natürlich besser ins Geschäft - falls er das will - als die Krämerseele, die nur an ihren Profit denkt.

Zur Bildung gehört auch, dass man seinen Platz in der Welt erkennt, dass man bewusst wahrnimmt: Ich bin Teil dieser Familie, diese ist Teil jener Sippe, ich gehöre an diesen Ort, in diese Region, die Teil jenes Landes und jener Kultur ist und zu dieser Tradition gehört, und an diese Tradition knüpfe ich an. Das Mittel, das die Geschichte und Geschichten dieser Traditionen, Regionen und Familien verdichtet und in dieser verdichteten Form immer weiter erzählt, ist die Literatur. Aus ihr beziehen wir zu einem großen Teil unser Orientierungswissen.

 Weltklugheit, Weltverständnis, Realitätssinn, Wettbewerbsfähigkeit, das alles sind auch Nebenprodukte jener Beschäftigung, welche die Hauptbeschäftigung des Gebildeten ist: Lesen.
Ich will das an meinem eigenen Beispiel erläutern. Ich will ihnen erzählen, wie ich an das erste große Werk der Weltliteratur kam, und warum mir das heute, aus der Rückschau, fast so vorkommt, wie eine Initiation.

Ich war zwölf, kein Kind mehr, noch kein Teenager. Ich hatte alle Enid-Blyton-Bände und Quo Vadis ausgelesen und begann mich nach dem siebten Karl May mit der ewigen Männerwelt des Wilden Westens zu langweilen.

Meine drei älteren Geschwister waren schon aus dem Haus. Die Schwestern studierten, der Bruder lebte im Internat. Blieb meine Großmutter. Immer, wenn meine Eltern unterwegs waren - und das war oft - , durfte ich bei ihr übernachten. Sie kochte Spaghetti (das einzige Gericht, das sie beherrschte), erzählte mir Geschichten und las mir vor, als ich noch nicht lesen konnte. Und wenn es Samstag war, sahen wir Einer wird gewinnen mit Kuli.

Unnötig zu sagen, dass diese Großmutter den größten Einfluss auf mich hatte. Das, was ich heute als das "mir Eigene" betrachte, besteht zu einem nicht geringen Teil aus dem mir von meiner Großmutter Zugedachten und Zugefallenen.

Als sie mich eines Nachmittags, verloren und missmutig im Wohnzimmer meiner Eltern herumhängen sah, fragte sie, ob ich nicht der Meinung sei, dass ich jetzt mal anfangen könnte, was Gescheites zu lesen. Der Meinung war ich durchaus. Ich wusste nur nicht, was.

Nun hatte meine Großmutter zwei Lieblingsschriftsteller: Thomas Mann ("Der Fotograf des Lebens!") und Theodor Fontane. Ihre beiden Lieblingsromane hießen Die Buddenbrooks und Der Stechlin. Die alte Generation und die neue Zeit - das war ihr Thema. Und gleich danach kam Effi Briest.

Meine Großmutter meinte, dass die Buddenbrooks am geeignetsten seien, um damit anzufangen, "was Gescheites" zu lesen. Sie nahm es aber nicht bei sich oder meinen Eltern aus dem Regal, sondern kaufte mir ein nagelneues Taschenbuch. So war Thomas Manns Familienepos also das erste Stück Weltliteratur, das ich in die Finger bekam und sofort zu lesen begann.

Schon der Untertitel faszinierte mich: Verfall einer Familie. Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich es in diesem Buch mit wirklichen Menschen zu tun bekam, so wie ich sie aus meiner Familie kannte: Menschen mit merkwürdigen Eigenheiten und Redensarten, Menschen, die höchst individuell und interessant waren und dennoch ganz und gar in den Konventionen ihrer Zeit gefangen blieben.

Ich lebte nun wochenlang in dieser Familie, die mir so merkwürdig bekannt vorkam: mit der alten Konsulin, dem genialen, aber hypochondrischen Christian, der so amüsant und liebenswert ist und sich doch so schwer tut mit dem Leben, seinem weniger originellen, aber geradlinigen Bruder Thomas, der sein Leben - scheinbar - nach allen Tüchtigkeitskriterien dieser Welt meistert. Tony Buddenbrook ("auch wenn ich nur eine Gans bin") liebte ich, so wie sie war, und sah sie voller Verzweiflung schutzlos an die falschen Männern ausgeliefert, weil die richtigen - wie Morten, mit dem sie "auf den Steinen" sitzt - nicht standesgemäß waren.

Und sie, die beiden Fehlgriffe der Tony Buddenbrook, der spießige Hochstapler Grünlich und sein primitiv-bayrischer Nachfolger Permaneder, die traf ich sozusagen als alte, schreckliche Bekannte wieder, denn als geflügelte Worte tauchten sie regelmäßig in den Reden meiner Familie auf. Und jetzt erst erschloss sich mir die Ironie, mit der meine Mutter im Grünlich-Duktus - "Das putzt ganz ungemein!" - gerne Geschenke lobte. Auch Tonys Schreckensausruf "Das Wort! Das Wort!" kehrte immer wieder in den Erzählungen, beliebt auch in seiner entschlüsselten Form, des Permanederschen "Sauluder dreckats!". Zu meiner Überraschung und Freude fand ich all die Aussprüche wieder, mit denen ich aufgewachsen war: "Äußerlich, mein gutes Kind, bist du glatt und geleckt, aber innerlich, da bist du schwarz!" wurde - halb im Spaß, halb im Ernst - zu mir gesagt und Sesemi Weichbrodts "Ich wörde die ganze Zockerböchse nehmen, mein Kend!"!

Auch die anderen, die mir nicht so Herzen am lagen wie die drei Geschwister Tom, Christian und Tony, begleiten mich bis heute durchs Leben: Thomas Ehefrau Gerda mit den seltsamen bläulichen Schatten um die Augen etwa, die sich aus ihrer profanen Ehe in die Musik und zu dem entsprechenden Lehrer flüchtet, mit dem sie Stunden hinter verschlossenen Türen zubringt - und meine zwölfjährige Fantasie mindestens so strapazierte wie die des irritiert in den Hausflur hinein lauschenden Ehemanns. Der arme kleine Hanno, mit dem ich so litt, als er vor der Großfamilie zu irgendeinem Jubiläum etwas aufsagen muss und ihn die Angst vor dem Auftritt würgt. Die verständnislose Enttäuschung des Vaters über das Versagen des Kindes stach mir direkt ins Herz. Und wie er schließlich - " mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt" - stirbt, nachdem er selbst in der Familienchronik hinter seinem Namen einen Punkt gemacht hat, das hat mich tief bewegt.

Kein anderer Familienroman und keine andere Familie hat mich je wieder so unmittelbar berührt, denn ich konnte mich in fast jedes Familienmitglied hinein denken. Irgendwie waren sie einem alle sympathisch und nah und vertraut, und vielleicht kam das auch daher, dass wir einfach alle die Buddenbrooks gelesen hatten. So viele Romane gibt es ja nicht, die jeder in der Familie kannte. Es war, als lebten sie mit uns oder wir mit ihnen - wenn auch über ganz verschiedene Epochen hinweg.

Sie waren mir nah wie meine eigene Familie - obwohl es überhaupt keine Parallelen gibt. Weder waren wir Kaufleute, noch norddeutsch, noch wohlhabend. Nur auch ein wenig skurril und ebenso "dekadent" fand mein Bruder unsere Familie im Vergleich und meinte, mit uns werde es ebenso bergab gehen wie mit den Buddenbrooks - vielleicht weil mein Vater sich wie Thomas B. mehrmals am Tag umzog. Dass wir auch nicht leistungsfähig seien, weil uns (vor allem den Eltern) der Ehrgeiz fehle. Von Ruhm und Reichtum wolle er gar nicht reden, aber meine Eltern zeigten ja nicht mal die Lust, normale bürgerliche Verhältnisse vorzuzeigen - wenigstens ein ganz klein wenig zu repräsentieren. Nein, wir waren keine erfolgreiche Familie in seinen Augen: eher etwas altmodisch schöngeistig und lebensuntüchtig - so sein Verdikt. Mein Bruder frönte und frönt noch heute einer "Ethik des Erfolgs".

Meine Eltern hielten es eher mit einer "Ethik des Misserfolgs". Materielle "Erfolglosigkeit", gepaart mit Schöngeisterei, darin sahen sie eher eine Eigenschaft, die jemanden in ihren Augen adelte. Natürlich haben wir von diesen Eltern, die immer zu sagen pflegten "Wir sind keine Koofmichs" auch nichts geerbt. Das ist nun mal die Kehrseite der Ethik des Misserfolgs und der Schöngeisterei.

Trotzdem fand und finde ich meine Familie in Ordnung, auch wenn sie mir alle ständig auf die Nerven gingen, denn natürlich lag ich - pubertätsbedingt - permanent mit ihnen im Clinch. Wenn alle zusammenkamen, ging es wie in einer italienischen Großfamilie bei Fellini zu, jeder redete auf jeden ein, niemand hörte zu, man diskutierte, politisierte, wertete und stritt.

Das fand ich unnormal. Bei meinen Freunden ging es jedenfalls anders zu. Ruhiger, normaler eben. Aber bei uns war alles immer anders als bei anderen. Schon das war Programm: Die anderen mögen es so machen, sagten Mutter und Großmutter unisono, w i r machen es eben so.

Insofern war meine Familie in Wahrheit in allen Punkten das genaue Gegenteil der Lübecker Kaufmannsdynastie.

Doch Aufstieg und Verfall der Familie Buddenbrook ließ mich meine eigene Familie mit ihren Macken und Absonderlichkeiten plötzlich aus größerer Distanz sehen - sub specie eternitatis sozusagen; die erzählerische Ironie vermittelte mir zum ersten Mal das Gefühl, nicht ausgeliefert zu sein, sondern das Ganze auch von außen betrachten zu können - einschließlich meiner eigenen Person.

Zum ersten Mal sah ich mich als Teil eines höchst lebendigen und hochkomplizierten sozialen Systems, dessen Sonderbarkeiten mir ja auch etwas gaben, das in diesem Alter eine entscheidende Erfahrung ist: Individualität. Ein Gefühl, das übrigens keineswegs beglückend ist, denn es wird hart erarbeitet: mit Einsamkeit, Fremdheit, Nicht-wissen-wohin-man-gehört und ich-hasse-alle-um-mich-herum.

Die Ironie von Thomas Mann hat mir also - auch wenn mir das damals sicher nicht so bewusst war - eine Art Schutzschild vermittelt. Doch ja, so habe ich das empfunden: Ein Schutzschild gegen all die Zumutungen, die eine große, laute, selbstbewusste und fordernde Familie für ein eher introvertiertes, jüngstes Kind wie mich darstellte. Und sie hat mich zumindest ahnen lassen, dass der übermächtigen, geliebt-gehassten Familie gegenüber noch eine andere Haltung möglich war als die des emotionalen Ausgeliefertseins: sie einfach nicht ganz ernst zu nehmen.

Sich selbst, seine eigene Familie und die ganze Welt nicht mehr ganz ernst zu nehmen - das glaube ich, ist - auch wenn es nicht immer gelingt - ein sehr erstrebenswertes Bildungsziel und der Gipfel aller Lebenskunst.